Von der Interpretation zum Gespräch über Literatur

Dies Überbetonung des Inhaltsbegriffs, bringt das ständige, nie erlahmende Streben nach Interpretation mit sich. Und umgekehrt festigt die Gewohnheit, sich dem Kunstwerk in interpretierender Absicht zu nähern, die Vorstellung, daß es tatsächlich so etwas wie den Inhalt eines Kunstwerks gibt.
– Susan Sontag, Against Interpretation (übers. von Mark W. Rien, 1980)

Was leisten Interpretationen im Deutschunterricht? Diese Frage hat Bob Blume aus einer naheliegenden Perspektive diskutiert: ausgehend von Konflikten, die bei der Rückgabe von Klausuren entstehen. In der Diskussion dieser Konflikte gelangt Blume zu einer eigenen Definition der Interpretation als Textsorte: »Man eignet sich [einen Text] an und beschreibt plausibel, wie man dorthin gelangte«.

Letzte Woche habe ich mit einer 12. Klasse das untenstehende Gedicht von Ingeborg Bachmann diskutiert. Die poetische Umschreibung dessen, »was wahr ist«, und die Erwähnung, »der Ausgang« sei unbekannt, machen deutlich, dass die Aneignung des Textes nicht in einer »Übersetzung« in Gemeintes bestehen kann – etwas, was auch Bob Blume in seinem Text deutlich macht (obwohl er bei der Bestimmung der biografischen Arbeit im Zusammenhang mit einer Interpretation unglücklicherweise wieder von einem möglichen »Übersetzungsfehler« spricht, wenn auch in Anführungszeichen).

Die Aneignung bestand nun bei vielen Schülerinnen und Schülern darin, zu sagen, sie verstünden den Text nicht, nicht einmal eine Strophe. Er spricht nicht zu ihnen. Er ist sprachlich sperrig und intertextuell verschlüsselt (Wittgenstein, Höhlengleichnis). Angenommen, sie wären nicht in der Schule sondern würden auf dem Lesesessel einen Gedichtband aufschlagen oder im Museum Bilder ansehen, dann übersprängen sie wohl Texte oder Bilder, die nicht zu ihnen sprechen. In der Schule wird ihnen das kaum zugestanden. Das ausgewählte Gedicht wurde von mir als relevant für ihren Lernprozess bestimmt – eine sehr künstliche Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur.

Daher wäre es zwar schön, es würde zu einer Aneignung kommen, oder mehr noch: Man könnte durch Interpretationen lernen,

die Welt zu verstehen, menschliche Handlungen nachzuvollziehen, damit empathischer zu werden oder zumindest zu verstehen, warum Menschen so handeln wie sie handeln? (Bob Blume)

Aber passieren wird das nur in Glücksfällen. In der Regel findet ein krampfhaftes Schreiben über unverständliche Texte statt, die dann Lehrkräfte dann verkrampft und mit leichter Verärgerung über die Dummheit der Schülerinnen und Schüler mühsam korrigieren.

Daher wäre es wohl sinnvoll, von der Interpretation generell abzurücken. »Interpretieren« ist weder eine genuin literaturwissenschaftliche Tätigkeit (nur in den unsäglichen Sekundärwerken, die Verlage für bequeme Lernende oder Lehrende verfassen, gibt es sowas wie eine Interpretation noch), noch ist es ein sinnvoller Arbeitsauftrag, weil nicht klar ist, was damit gemeint ist. Auch das von Susan Sontag aufgeworfene Problem wiederholt jeder Auftrag, Kunst zu »interpretieren«: Er gibt vor, es gäbe einen Inhalt eines Kunstwerks, der in einer anderen Form klarer dargestellt werden könnte. (Wollte Bachmann uns diesen Inhalt auf eine andere als in dieser poetischen Form mitteilen, hätte sie das wohl gemacht.) Das Wort »Interpretation« sollte so schnell wie möglich aus dem Deutschunterricht verschwinden, wäre der Schluss aus dieser Überlegung. (Das passiert deshalb wohl nicht, weil es auch tief in einer seltsamen Prüfungskultur mit lauter Fehlanreizen verankert ist.)

Als Ersatz bietet sich ein Gespräch über Texte oder über Kunst an. Jemandem das eigene Verständnis mitzuteilen und sich auf die Perspektive einer anderen Person einzulassen – das hilft, »Handlungen nachzuvollziehen, damit empathischer zu werden«. So lässt sich auch erklären, weshalb man über schwierige Texte Gespräche führen sollte – weil man so lernt, zu artikulieren, was man nicht versteht (statt im Interpretationsaufsatz so zu tun, als verstünde man, was man nicht versteht), weil man so fremder Sprache mit eigener Sprache begegnet.

 

Was wahr ist (aus: Anrufung des großen Bären, 1956)

Was wahr ist, streut nicht Sand in deine Augen,
was wahr ist, bitten Schlaf und Tod dir ab
als eingefleischt, von jedem Schmerz beraten,
was wahr ist, rückt den Stein von deinem Grab.

Was wahr ist, so entsunken, so verwaschen
in Keim und Blatt, im faulen Zungenbett
ein Jahr und noch ein Jahr und alle Jahre –
was wahr ist, schafft nicht Zeit, es macht sie wett.

Was wahr ist, zieht der Erde einen Scheitel,
kämmt Traum und Kranz und die Bestellung aus,
es schwillt sein Kamm und voll gerauften Früchten
schlägt es in dich und trinkt dich gänzlich aus

Was wahr ist, unterbleibt nicht bis zum Raubzug,
bei dem es dir vielleicht ums Ganze geht.
Du bist sein Raub beim Aufbruch deiner Wunden;
nichts überfällt dich, was dich nicht verrät.

Es kommt der Mond mir den vergällten Krügen.
So trink dein Maß. Es sinkt die bittre Nacht.
Der Abschaum flockt den Tauben ins Gefieder,
wird nicht ein Zweig in Sicherheit gebracht.

Du haftest in der Welt, beschwert von Ketten,
doch treibt, was wahr ist, Sprünge in die Wand.
Du wachst und siehst im Dunkeln nach dem Rechten,
dem unbekannten Ausgang zugewandt.