Mein Gegenkanon

In der Schweiz, so wird Michael Böhler von Korte zitiert, gibt es nur einen »habitualisierten« Kanon im Deutschunterricht. Welche Werke im gymnasialen Deutschunterricht gelesen werden, entscheiden die Lehrkräfte weitgehend autonom. An einigen Schulen gibt es Absprachen und Gepflogenheiten, an vielen findet aber inhaltlich und methodisch bewusst sehr heterogener Unterricht statt.

Gleichwohl lässt sich der habitualisierte Kanon umreißen: Fast alle Schülerinnen und Schüler lesen am Gymnasium Lessing, Kleist, Schiller und Kafka. Auch eine Neuerscheinung (gemeint ist ein Text aus den letzten 10 Jahren) ist meist Pflicht, genau so wie ein längerer Text von einer Frau, aus dem Realismus und aus der Schweiz. Auch bei der Lektüre von Gedichten lässt sich wohl ein prototypischer Kern angeben: Angefangen bei Minne-Lyrik über Barock-Sonette und Goethes Sturm-und-Drang-Lyrik bis zu Dadaismus, Rilke, Celan.

Das alles ist nun sehr grob formuliert – weil es ja nicht um den Kanon, sondern um den Gegenkanon geht. Kortes differenzierte Überlegungen zur Funktion des Kanons für die Auswahl von Texten weisen nach, dass jedes Abweichen vom Kanon (sei er nun normativ vorgegeben oder habitualisiert entstanden) zu einem neuen Kanon führt – dass also Deutschunterricht ohne Kanon nicht denkbar sei:

Kanonisierungsgeschichten sind Auf- und Abstiegsgeschichten, in denen Prozesse der De- und Rekanonisierung sich durchkreuzen. […] Zugespitzt lässt sich die Geschichte von Kanon-Revisionen und Gegenkanones auf die Formel bringen: »Die Negation des Kanons ist immer ein neuer Kanon.« (Gendolla/Zelle, Der Siegener Kanon, S. 9)

Diese Einsicht bringt mich zur Überlegung, wie mein Gegenkanon aussehen würde. Der Konjunktiv deutet auf ein hypothetisches Moment hin: Bei Matura- wie Lehramtsprüfungen spielen starke Erwartungen mit, die Prüfungen müssen auch für Expertinnen und Experten anschlussfähig sein und orientieren sich daher noch relativ stark am habitualisierten Kanon. Gleichwohl bewegt sich mein Unterricht kontinuierlich auf meinen Gegenkanon hin. Dieser Gegenkanon wirkt besonders im Bezug auf den bestehenden – er ergänzt und unterläuft ihn. Wie herkömmliche Kanonformen entwirft er einen Kenntnishorizont, der nie abgeschritten werden kann: Mir fehlt die Zeit, wichtige Computerspiele genügend intensiv zu spielen, alle Serien und Filme zu sehen, die wichtig wären; ich kenne viele Memes nicht und muss nachschlagen. Aber der Gegenkanon zeigt, was mündige Menschen heute auch kennen sollten. Wer sich den sieben Einträgen der unten stehenden Liste verschließt, versteht die Welt um uns herum schlechter, als wer sich damit beschäftigt. (Dass wir die Welt nie ganz verstehen werden, ist unabhängig vom Kanon eigentlich trivial.)

Hier seine Bestandteile:

  1. Filmisches Erzählen und Filmgeschichte
    Angefangen von frühen Filmen (Méliès, Fritz Lang, Chaplin) über Klassiker der Filmgeschichte (Hitchcock, Godard, Kubrick) bis zu den Autorenserien der HBO-Ära ist die Kenntnis von bestimmten Verfahren an entsprechende Texte geknüpft. (Texte ist in einem weiten Sinne gemeint, vgl. »Digitaler Deutschunterricht«, S. 50ff.)
    Diese Filme stehen in komplexen Verweisstrukturen, die einen bestimmten Kanon legitimieren.
  2. Popkultur
    Lady Gagas Fleischkostüm und die Lektüre ihrer Performances im Rahmen von Haraways Cyborg-Konzept ist ein Zugang, der zeigt, wie kulturelle Analysen mit scheinbar oberflächlichen Entwicklungen der Pop-Kultur verbunden sind. Songtexte als Lyrik, Musikvideos als Kurzfilme, Jugendkultur als Gegenkultur, Youtube-Rhetorik, Semiotik – eine Reihe von reichhaltigen Lernumgebungen für den Deutschunterricht lassen sich ausgehen von einem Verständnis von Popkultur entwickeln.
  3. Graphic Novels
    Viele literarische Texte werden heute als Graphic Novel in neuer Form präsentiert. Gleichzeitig gibt es hier seit den späten 70er-Jahren aber eine eigenständige Kultur, in denen kulturelles Andenken, Verarbeitung von Traumata (Spiegelmans »Maus«), Identitätsreflexion (Bechdels »Fun Home«) und innovative Erzähltechniken (McGuires »Here«) verschmelzen.
  4. Podcasts
    Was ich an neuem Wissen aufnehme, stammt häufig aus Podcasts. Diese Art der narrativen Vermittlung von Wissen verdient Kritik – aber auch Beachtung im Unterricht. Podcasts nehmen oft auch herkömmliche Radioformate auf, womit auch Hörspiele etc. in den Bereich dieses Gegenkanons rücken.
  5. Memes
    Kommunikation in sozialen Netzwerken verweist ständig auf Memes. Hierzu habe ich schon eine Unterrichtsidee publiziert – ohne ein Verständnis des Meme-Begriffs sowie der Kenntnis einer Vielzahl solcher Memes ist eine Analyse postmoderner Kommunikation nicht mehr denkbar. (Wer üben will, kann hier einsteigen…)
  6. Computergames
    Half-Life, The Stanley Parable, Super Mario, Lucas-Arts-Adventures – die Liste der Spiele, die zu einem kulturellen Selbstverständnis geführt haben oder eine neuartige Perspektive auf die Gesellschaft anbieten, ist lang. Computerspiele ermöglichen in einem eigenständigen Sinne »Werteerziehung« oder mehr noch Wertereflexion, weil sie interaktiver funktionieren als literarische Texte.
  7. Ikonische Momente der Mediengeschichte
    Zum Gegenkanon gehören abschließend Fernsehauftritte, Tonaufnahmen und Berichterstattungen, die sich ins kulturelle Gedächtnis eingeschrieben haben. Böhmermanns Fakes verweisen auf »Herr und Frau Müller«, Interviews mit Sportler*innen zitieren und wiederholen einander, auch das Reden über Bücher und Literatur ergibt einen Teppich von Bezügen – sei es Bernhard auf Mallorca, das literarische Quartett oder Heidenreich über Heidegger.