Die Strukturalismus-Falle

In der heutigen Sitzung des Fachdidaktik-Moduls haben wir einen Gedanken diskutiert, der etwas Vertiefung lohnt. Ausgangspunkt war eine Diskussion des Expressionismus-Kapitels von Texte, Themen und Strukturen. Dabei haben wir heute die beiden dort abgedruckten Erzähltexte, Kafkas Ein Brudermord sowie Benns Gehirne diskutiert.

Eine Gruppe hat dabei ungefähr folgenden Verlauf eines Unterrichtsgesprächs skizziert:

  1. Freie Reaktion der Schülerinnen und Schüler auf die Lektüre
    Kurzer Austausch in Tandems, jedes Paar schreibt danach einen Eindruck auf die Wandtafel
  2. Klärung des Leseverständnisses mit W-Fragen und Hinführung zur Frage, wie der Text erzählt ist
    Arbeit am Text (Visualizer)
  3. Einbettung der Erzählung in den Expressionismus und Brücke zu den Statements vom Anfang (Abrundung).

Aus einer anderen Gruppe wurde bei 2. die Kritik laut, hier würde der Erzählung ein strukturalistisches Verständnis übergestülpt, die Erzählung werde so gelesen, dass sie aufgehe – auch wenn das im Text gar nicht so vorgesehen ist. Spontan haben wir dieses Problem die Strukturalismus-Falle genannt: Also die Tendenz, in der Schule alle Texte strukturalistisch zu interpretieren.

Zunächst dürfte es hilfreich sein, die Funktion einer Unterrichtssequenz wie 2. zu diskutieren: In einem ersten Schritt erlaubt ein Sprechen über die Story den Lernenden, ihr subjektives Leseverständnis mit dem der Klasse und dem der Lehrperson abzugleichen. »Habe ich das so wie die anderen/so wie es die Lehrperson erwartet gelesen?«

In einem zweiten Schritt kann hier der Lektüreeindruck – was erzählt der Text – auf die konkrete Struktur des Texte zurückgeführt werden – wie erzählt der Text.

Und in einem dritten Schritt erfolgt eine Interpretation mit strukturalistischen Methoden (Personendiagramme, Oppositionen etc.). Drügh, Komfort-Heim und Kraß beschreiben den Strukturalismus wie folgt

Nach Roland Barthes (1915–1980) zeichnet sich die »strukturalistische Tätigkeit« dadurch aus, dass das zu untersuchende Objekt (der literarische Text) zuerst einmal in seine Bestandteile zerlegt wird, um es dann »derart zu rekonstituieren, daß in dieser Rekonstitution zutage tritt, nach welchen Regeln es funktioniert (welches seine ›Funktionen‹ sind)« (Barthes Die strukturalistische Tätigkeit, S. 217). Die Strukturen eines Textes sind, so Barthes, über analytische Zerlegung und das erneute, synthetische Arrangement seiner sprachlichen Elemente erst sichtbar zu machen, um den Sinn zu ermitteln, der sich aus der Differenz und den Relationen der Elemente konstituiert. Die modellhafte Rekonstruktion soll das »zum Vorschein« bringen, was auf den ersten Blick im Text »unsichtbar« oder gar »unverständlich blieb« (ebd.).

Diese Beschreibung erfasst recht gut, was in vielen Deutschstunden als »Interpretation« eines literarischen Textes erarbeitet wird. Inwiefern könnte das eine Falle sein?

Werfen wir einen Blick auf die Sekundärliteratur zu Kafkas Brudermord-Erzählung. Zunächst ein Auszug aus einem Aufsatz von Judith Sidler von 2007, in dem die Autorin zeigt, dass die Erzählperspektive geschachtelt ist, wobei Pallas als Fokusfigur eine zentrale Rolle zukommt:

Damit hört die Schachtelung der in diesem Text verborgenen ‘Weltsichten’ jedoch nicht auf, die Fokalisierung ist noch komplexer. Eine weitere Fokalisierungsschicht, die der von Pallas noch übergeordnet werden muß, findet sich in der oben zitierten, nicht näher lokalisierbaren (rhetorischen?) Frage, ‘‘warum’’ Pallas dies alles ‘‘duldete’’. Dieser übergeordnete Fokalisator – der Beobachter Pallas hat also selbst einen weiteren Beobachter! – bleibt allerdings völlig im Hintergrund. Es scheint diese ultimative Fokalisierungs-Ebene zu sein, auf der – in relativer, aber unbestimmbarer Nähe zur grundlegendsten Fokalisierung eines jeden Erzähltextes, nämlich der des impliziten Autors-, die wenigen ‘objektiv’ gültigen Hinweise gegeben werden, die dem Leser Ansätze einer Sinnkonstruktion ermöglichen.

Diese Hinweise finden sich hauptsächlich außerhalb des eigentlichen, intratextuellen Diskurses; sie sind weder auf der story-, noch auf der text-Ebene, sondern eher auf der Textualitäts-Ebene der Erzählung situiert. Es handelt sich dabei um Elemente, die zu einem großen Teil auf der Intertextualität der Erzählung beruhen; d.h. auf der Existenz dieses Textes als ein Text innerhalb eines network von Texten, in und durch deren übergreifendes Verweissystem seine Bedeutung erst entstehen kann.

Sidler verweist dabei auf die Arbeiten von Patrick O’Neill, insbesondere auf sein erzähltheoretisches Werk Fictions of Discourse (1996), in der ein Modell formuliert, wonach ein Text auf vier Ebenen funktioniert:

  1. Figuren handeln in der story
  2. Erzählinstanzen erzählen den Text
  3. Der implizite Autor verfasst die Narration
  4. Der Autor schafft Textualität.

Dieses Konzept kann hier nicht vertieft diskutiert werden, entscheidend ist, dass die jeweils übergeordnete Ebene dafür sorgt, dass die untergeordnete instabil wird, weil sie kontextualisiert wird. Jede story wird beispielsweise immer wieder umgeschrieben: Je nach Kultur, in der sie erzählt wird, je nach Sprache, in die sie übersetzt wird. O’Neill geht davon aus, dass das Netzwerk der Übersetzungen und der intertextuellen Verweise einen Text selbst verändern – also die hier abgebildeten Panels aus Kupers neuer Comic-Adaption der Erzählung verändern Kafkas Text an sich – genau so wie jede Lektüre von mir »meine« Brudermord-Erzählung verändert.

Damit sind wir bei einer Vorstellung, die man mit Derrida die Unabschließbarkeit der sprachlichen Produktion von Bedeutungen nennen könnte.

Nur: Bringen wir das irgendwie in ein reales Unterrichtssetting rein? Ist vielleicht Strukturalismus nicht mehr als didaktische Reduktion?

Sidlers Fazit könnte weiterhelfen:

Wese liest den ‘Text’ des Himmels, Pallas liest den ‘Menschheitstext’ und der Leser liest schließlich Pallas’ ‘Text’. Alle drei scheitern. Direkte Folge des Scheiterns ist die entfesselte Brutalität eines in drastischem Detail beschriebenen Mordes, der den Menschen auf das Niveau einer toten Ratte reduziert. Anschaulicher hätte Kafka die Sinnkrise der Moderne nicht kommentieren können.

Sidler zeigt, dass der Text die Sinnfrage mehrfach stellt, jeder Versuch, sie durch Lektüre zu beantworten, durch den Text aber vereitelt wird. Der Text lässt sich nicht auf den Begriff bringen, er lässt sich strukturalistisch nicht zähmen, nur zerstören. Es fehlt eine Instanz, die den Sinn garantiert. Die Menschen entziffern je unterschiedliche Texte, scheitern dabei aber – die Leserin nicht anders als Wese, nicht anders als Pallas.

Das kann man mit einer mutigen im Unterricht leicht erfahren: Die Deutungsansätze, die eine strukturalistisch argumentierende Lehrperson liefert, werden alle nicht aufgehen – eine Schülerin oder ein Schüler wird immer eine Passage finden, die sich damit nicht erklären lässt.

Schauen wir noch eine zweite Interpretation an, und zwar die von Schiffermüller (2011):

Bei Kafka dagegen ist der Ekel eine intensive moralische Erfahrung, die sich weder zu existenz-philosophischen eine überdrüssigen ennui verflüchtigt hat, noch sakralisiert wird im Namen einer tabuisierten erotischen Lust.

Der Fokus auf den Ekel, der gerade in der Schlusspassage bei Schmar in der Erzählung sehr deutlich wird, bettet Schiffermüller kulturhistorisch (mit Bezug auf die Studie von Menninghaus) ein. So erhalten wir einen ideengeschichtlichen Zugang, welcher wiederum den strukturalistischen Rahmen sprengt, der oft stark textimmanent arbeitet.

Damit eine Klasse solche Bezüge und diskursive Entwicklungen nachvollziehen kann, muss sie über den Text hinaus lesen, informiert werden, zeitgenössische Sachtexte und literarische Arbeiten zur Kenntnis nehmen.

Die zwei Einblicke in literaturwissenschaftliche Arbeiten zur Brudermord-Erzählung zeigen, dass nicht-strukturalistische Zugänge im Deutschunterricht die Komplexität der Arbeit mit Texten erhöhen, aber auch auf mehr Informationen zurückgreifen. Gleichwohl zeigen sich aber deutliche Unzulänglichkeiten der strukturalistischen Reduktion.

Eine didaktische Zuflucht bieten die Adaptionen, die in diesem Beitrag verlinkt werden: Die Graphic Novel von Kuper oder der Kurzfilm von Böhm können eine ähnliche Funktion einnehmen, wie das bei O’Neill die Übersetzungen tun: Sie zeigen, dass die Bedeutung dieser Texte verhandelt und verändert wird. Wer den Text liest und danach einen Comic- oder Film-Umsetzung wahrnimmt, wird den Text anders verstehen. Die Bedeutung des Textes ist nicht durch seine Niederschrift festgelegt, sondern wandelt sich, entzieht sich aus.

Diese post-strukturalistische Einsicht sollte im Deutschunterricht wohl immer wieder durchscheinen – auch wenn ein strukturalistisches Lesen oft zu wichtiger Orientierung und Sicherheit führt.