Wozu Kommaregeln lernen?

Kürzlich habe ich eine Lehramtsprüfung bewertet (Lehrprobe), bei der das Thema Kommasetzung war. Zu Beginn der Lektion hat die Kandidatin gefragt, weshalb Kommas wichtig sind.

Die Klasse hat ungefähr folgende Antworten geliefert:

  1. Die Intonation eines Satzes werde beim Vorlesen klarer erkennbar.
  2. Kommas würden Teilsätze trennen und grammatische Strukturen besser sichtbar machen.
  3. Die Bedeutung eines Satz würde deutlich.
  4. Sätze seien einfacher lesbar.

Zum Schluss hat dann aber ein Schüler gesagt, er verstehe nicht, wozu man Kommas brauche: Privat brauche er keine und es sei noch nie ein Problem entstanden.

Wie argumentiert man aus Sicht der Deutschdidaktik für Kommas und für die Kenntnis der Kommaregeln?

Betrachten wir ein paar Argumentationen.

Die erste stammt aus »Deutsch Kompaktwissen«, dem Lehrmittel, das die hier erwähnte Klasse verwendet. Dort steht (zum Vergrößern klicken):

Im folgenden Abschnitt räumen Bieli, Lyrén und Fricker mit zwei Märchen auf: Dem Märchen von den lebenswichtigen Kommas (hier ein paar Beispiele, die ich mit einer Klasse gesammelt habe) und dem Märchen, dass vor »und« nie ein Komma stehe.

»Kompaktwissen Deutsch« sieht die Funktion von Kommas als in der Klarheit für Leserinnen und Leser – benutzt aber einen Satz, der von seiner Länge her stilistisch nicht zu empfehlen ist.

Die zweite Argumentation, die im gymnasialen Deutschunterricht schon fast kanonisch ist, stammt von Wolf Schneider: »Wie man einen Text mit Punkten tötet« (hier der Auszug aus Orthogramm). Darin heißt es:

Und schliesslich ist auch das blosse Komma noch ein Bindeglied. «Balken krachen. Pfosten stürzen. Fenster klirren. Kinder jammern. Mütter irren», das hat Schiller nicht geschrieben, sondern: «Balken krachen, Pfosten stürzen, Fenster klirren . . .» Muss man sich darüber streiten, dass durch die Kommas eine völlig andere Sprachmelodie entsteht, dass es nicht gleichgültig ist, ob ich eingeladen werde, die Stimme fünfmal zu heben und weiterzulesen, statt sie fünfmal zu senken und zu pausieren? Kurze Sätze werden selbstverständlich durch Kommas getrennt! Doch die unter Dreissigjährigen schreiben lieber: «Das ist falsch. Wofür haben wir den Punkt. Soll er doch meinen Text in Stücke hacken. Ich liebe ihn.»

Schneider argumentiert für die Intonation, nicht für die Klarheit. Er grenzt Kommasetzung nicht von fehlerhaften Sätzen ab, sondern von der Setzung von Punkten, die aus seiner Sicht das sprachliche Repertoire einschränkten.

Die dritte Argumentation stammt auch von einem Journalisten, von Markus Reiter. In »Das Sterben des Kommas« beginnt er mit einem Vorwurf: Nur Egoisten würden Kommas meiden, da sie doch den Leserinnen und Lesern ihre Aufgabe erschwerten. Im Text begründet er das dann wie folgt:

Die regelfreien Texte der Verkäufer beim Internetauktionshaus Ebay, der Mitglieder auf Facebook oder der Nutzer von WhatsApp erfüllen bis zu einem gewissen Grade ihre Funktion: Sie vermitteln ihren Empfängern eine Information. Das Problem liegt in der Einschränkung. Auch frühmittelalterliche Texte ohne Wortabstand waren den Mönchen „bis zu einem gewissen Grad“ verständlich.  Sie bürdeten aber die Last des Verstehens den Lesenden auf. Das Verschwinden des Kommas macht es mühseliger und fehleranfälliger, fremde Texte zu lesen.

Reiter betrachtet Zeichensetzung zunächst historisch und hält fest, dass Kommas eine Innovation waren. Aus dieser sprachsystematischen Perspektive könnte auch das Verschwinden von Kommas erklärt werden – Reiter verzichtet aber zugunsten eines kulturpessimistischen Ansatzes darauf. Darin gleicht sein Zugang dem von Wolf Schneider.

Bleibt noch eine vierte Argumentation, die sich in »Deutsch Kompaktwissen« in einer Übung versteckt (deshalb fehlen Kommas). Der Text stammt wahrscheinlich vom Autorenteam, eine Angabe fehlt:

Obwohl eine gepflegte und korrekte Sprache etwas vom Wichtigsten ist achten heute Sprechende und Schreibende oft zu wenig darauf. Man hört immer wieder wie vor allem junge Leute sich nur noch in einfachen und oft halben Sätzen unterhalten. Wohlüberlegte und durchdachte Sätze zu formulieren fällt ihnen schwer. Natürlich ist es einfacher nur noch Satzfragmente von sich zu geben weil man sich dabei weniger konzentrieren muss als wenn man sich um vollständige Sätze bemüht. Während dieser Umstand beim Sprechen noch verständlich ist wiegt er beim Schreiben schon schwerer. Wer schon beim Reden über wenig Sprache und einen kleinen Wortschatz verfügt wird beim Schreiben in noch grössere Schwierigkeiten geraten. Dabei legen heute viele Firmen die Mitarbeitende suchen grossen Wert auf Bewerberinnen und Bewerber die sprachsicher und sprachgewandt sind. Man hat bessere Chancen auf eine Stelle wenn man sich sprachlich gut ausdrücken kann.

Neben Klarheit, Intonation und Entlastung der Lesenden steht damit auch das Einhalten der Sprachnorm als Argumentation im Raum, weshalb Kinder und Jugendliche Kommaregeln lernen sollten.

Nun schreiben sie aber so – jugendsprachlich, interaktionsorientiert, mit Emojis als Markern und Trennern und in kurze Nachrichten aufgeteilt.

Ein Schüler hat in der Stunde auch gesagt, er würde einfach eine Nachricht abschicken, wenn er einen Einschnitt markieren würde. Kurz: Die Affordanz von Chat-Programmen macht Kommas in vielen Kontexten obsolet.

Was tun, aus deutschdidaktischer Sicht?

  1. Dem »Warum« Raum geben – diese Diskussionen führen, Argumentationen anschauen, sie kritisch prüfen.
  2. Kulturpessimistische Sichtweisen auf Sprache durch kulturoptimistische ergänzen, Zerfallsnarrativen kritisch begegnen und sie auch sprachwissenschaftlich prüfen.
  3. Pragmatisch bleiben: Regeln, die für Jugendliche abstrakt und lebensfremd sind, können im Unterricht durchaus diskutiert und als Lerngelegenheiten angesehen werden, um grammatische Zusammenhänge zu erforschen und kennenzulernen. Aber Kommasetzung ist vergleichsweise unwichtig, wenn alle Kompetenzen im Deutschunterricht zusammengenommen werden.
  4. Normativen Aussagen kritisch begegnen: Stimmt es wirklich, dass bei Bewerbungen die Kommasetzung entscheidend ist? Können Lehrerinnen und Lehrer heute fehlerfrei Kommas setzen? Beurteilen wir andere Menschen wirklich aufgrund ihrer Kommasetzung?
  5. Zeichensetzung als Teil eines sprachlichen Repertoires betrachten, das gefördert und erweitert werden soll. (Danke für diesen Hinweis!)

Meine Lernumgebung zur Kommasetzung findet man hier.

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