Vorstellung: »Literatur als Streitfall«
Die Deutschlehrerin Villö Huszai und der ehemalige Fachdidaktiker und Deutschlehrer Ralph Fehlmann haben dieses Jahr ein für den gymnasialen Deutschunterricht wegweisendes Werk vorgelegt.
Sie adaptieren darin die Methode von »Jugend debattiert« und übertragen sie in einem differenzierten Modell auf den Literaturunterricht: Eine Streitfrage, so die Grundidee, soll zu genauer Lektüre, literarischem Argumentieren und gehaltvollen Diskussionen zwischen den Lernenden führen. Zudem verhindert sie, dass in literarischen Texten Aussagen von Autor*innen gesucht werden.
Die Orientierung an der Debatten-Methode legt nahe, dass es sich bei den Streitfragen um Entscheidungsfragen handelt. Klar festgelegte Seiten erzwingen Entscheidungen, aus denen eine intensive Auseinandersetzung erfolgen kann. So sollen Schüler*innen autonom, motiviert lernen, mit dem Text arbeiten und doch einen klaren Fokus haben. (Zudem wird in der recht ausführlichen Einleitung eine Kritik an einer zeitgenössischen Tendenz zur Authentizität vorgebracht. Das Streiten in Rollen könne verhindern, dass die »Erarbeitung von Erkenntnis […] auf dem Altar der Authentizität geopfert« werden müsse (28)).
Didaktisch entsteht für Huszai und Fehlmann durch die Orientierung an Streitfragen eine »goldene Mitte« (39) zwischen fragend-entwickelndem Unterricht – der zu einer Gängelung von Lernenden führt – und einem freien Unterrichtsgespräch, aus dem eine »ergebnislose Offenheit« resultieren kann (39). Huszai und Fehlmann betonen, dass ihr enge Bezüge Modell zum Heidelberger Modell des literarischen Unterrichtsgesprächs aufweise (47ff.).
Betrachten wir ein Beispiel – Lessings Sperling-Fabel von 1753.
Eine alte Kirche, welche den Sperlingen unzählige Nester gab, ward ausgebessert. Als sie nun in ihrem neuen Glanze dastand, kamen die Sperlinge wieder, ihre alten Wohnungen zu suchen. Allein sie fanden sie alle vermauert. »Zu was«, schrieen sie, »taugt denn nun das große Gebäude? Kommt, verlasst den unbrauchbaren Steinhaufen!«
Die Streitfrage von Huszai und Fehlmann dazu lautet (60):
Formulieren die Sperlinge eine tiefe Wahrheit oder symbolisieren sie die menschliche Beschränktheit? Unverblümter gefragt: Haben die Sperlinge recht oder sind sie Ignoranten?
Das Gewicht dieser Frage liege darin, dass eine Fabel auf eine Lehre abziele, die unterschiedlich wahrgenommen werden könne, heißt es im Kommentar dazu. Weiter folgen im Band ein kurzer Abriss des kulturhistorischen Kontextes, wesentliche Argumente für beide Seiten, Hinweise zu Forschungsliteratur sowie Verweise auf weitere interessante Texte (hier Gleims gleichnamige Fabel von 1755).
Betrachtet man die Streitfragen genauer (und mit anderen literaturwissenschaftlichen Zugängen), dann verlieren einige der von Huszai und Fehlmann formulierten Vorschläge an Kraft. In Kerns »Zur Methodik des deutschen Unterrichts« von 1888 steht zu Lessings Text (S. 32):
Die Rezeptionsgeschichte zeigt, dass die Streitfrage auf eine Scheinalternative abzielt: Die Sperlinge sind zugleich weise – aus ihrer Perspektive und ausgehend von ihren Bedürfnissen – und ignorant (weil sie die Bedürfnisse der Menschen nicht kennen). Dasselbe gilt aber auch für die Menschen, welche die Kathedrale bauen: Sie ignorieren, dass sie Sperlingen das Nisten erlaubte. Die Fabel ist dialektisch.
Diese Kritik ließe sich an einigen der Streitfragen anbringen, ergänzt durch eine zweite: Einige der Streitfragen lassen sich zu durch genaue Arbeit am Text eindeutig beantworten. Sie haben nur dann zwei Seiten, wenn Hinweise aus den Texten überlesen oder ausgeblendet werden.
Letztlich ist das aber kein gravierendes Problem: Die Streitfragen müssen nicht zwingend von den Lehrpersonen vorgegeben werden, oft entdecken Schüler*innen sie selbst (42ff.). Der Wert des Bandes besteht in einer raffinierten, klaren und funktionierenden Methode, die hochwertigen gymnasialen Literaturunterricht ermöglicht – sowie in einer Anthologie von Texten, die Schüler*innen zum Argumentieren verleiten. Die Anschaffung lohnt sich deshalb für alle, die an Gymnasien Deutsch unterrichten.
Eine mögliche Lektion basierend auf LaS: Kafkas Bäume