Kafkas Bäume – eine Modellstunde nach dem Streitfall-Modell

Die folgende Skizze zeigt, wie ausgehend vom Streitfall-Modell (LaS) von Huszai und Fehlmann eine ansprechende Deutschlektion gestaltet werden könnte. 

Geeignet ist der Entwurf wohl für alle Klasse des Kurzzeitgymnasiums, wahrscheinlich mit besseren Resultaten ab der 2./3. Klasse. 

Voraussetzung ist eine fachliche Beschäftigung mit der Parabel. Bei kanonischen literarischen Texten empfiehlt sich immer eine Konsultation der Handbücher. Die relevanten Auszüge aus dem Kafka-Handbuch von 2010 habe ich in ein Dokument kopiert. Zudem empfiehlt sich hier die Lektüre von Endres (2014), wo die Editionslage des Textes dargestellt ist. 

* * *

Die Bäume
Franz Kafka, 1908

Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.

Die vier überlieferten Versionen des Textes, abgedruckt nach Endres.

(0) Thema, Lernziele, Kompetenzen [2′]

Die Lektion orientiert sich an der Vorgabe, diesen kurzen Text von Kafka zu diskutieren. Dabei erwerben die Schüler*innen Kompetenzen im Umgang mit paradoxen literarischen Texten und lernen Verfahren, mit denen sie über solche Texte nachdenken und sprechen können. Das Streitfall-Modell lädt sie zudem dazu ein, einen Standpunkt argumentativ zu vertreten.

Eine kurze Einleitung und Begrüßung könnte diese Ziele umreißen, ein direkter Einstieg ist aber auch denkbar.

(1) Begegnung mit dem Text [5′]

Die Schüler*innen lesen den Text – oder hören ihn (vgl. Methodenblatt). Anbieten könnte sich hier die Lesung von Hans-Jörg Große (evtl. sogar mit der Bach-Melodie, aber ohne Bild).

Eine sinnvolle Alternative wäre eine Stimmskulptur, bei der einzelne Schüler*innen jeweils einen Satz lesen und jemand dirigiert, so dass die Sätze mehrmals in unterschiedlichen Reihenfolge gehört werden.

1 Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee.
2 Scheinbar liegen sie glatt auf
3 [und] mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können.
4 Nein, das kann man nicht,
5 denn sie sind fest mit dem Boden verbunden.
6 Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.

(2) Zeichnen [10′]

Im Streitfall-Buch steht ein Auftrag, der sich an die Lesenden richtet. Er könnte aber gut leicht modifiziert in einer Klasse eingesetzt werden:

Bedenken Sie das Gelesene in Ruhe. Damit Sie sich sicher die nötige Zeit nehmen (fünf bis zehn Minuten), bitten wir Sie, diese Bäume für sich zu zeichnen. (LaS, 15)

Klassen bräuchten sicher den gedruckten Text, um genau arbeiten zu können.

Zeichnungen LaS, 16.

(3) Diskussion der Streitfrage [10′]

Die Frage lautet bei Huszai/Fehlmann:

Stehen die Bäume oder liegen sie? 

Selbstverständlich könnte die Frage auch geändert werden – dann passt jedoch der Zeichnungsauftrag nicht gut dazu. Bei einer Alternative wäre wichtig, die Gütekriterien von LaS im Kopf zu behalten:

Aus diesen Qualitätsmerkmalen ergeben sich Maxime für diese Unterrichtsphase: Die Lehrperson sollte sich zurücknehmen und explizit darauf verweisen, dass sie protokolliere und/oder moderiere.

Die Zeichnung führt hier dazu, dass die Schüler*innen »skin in the game« haben, d.h. sie haben schon etwas investiert, die Diskussion hängt mit dem zusammen, was sie gezeichnet haben. Deshalb dürfte die Diskussion 10 Minuten lang recht gut laufen.

Tafelbild zur Diskussion der Streitfrage

(4) Erweiterung [10′]

Im Idealfall ergibt sich ein schöner Übergang von der Streitfrage zur Diskussion weiterer Aspekte des Kurztextes. Anbieten würden sich:

  1. Wie ist das »Denn« zu verstehen, mit dem der Text beginnt?
  2. Was bedeutet die Frage für den Vergleich, der im Text angelegt ist?
  3. Ist dieser Text »systematisch gegenstandsauflösend« oder »thematisch verrätselnd«? Was an ihm löst auf oder verrätselt? (Zitate aus Zymner)
  4. Wie gehen wir mit dem doppelten »scheinbar« um?
  5. Zitat von Nietzsche (erwähnt bei Neymeyr): »Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? … Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!«
  6. Liegt hier ein Paradox vor? (Vielleicht erklären, was ein Paradox ist.)

Abraten würde ich von einer Diskussion der Gattungsproblematik, wie sie in den Handbuch-Beiträgen anklingt (Gleichnis, Parabel, Betrachtung…). Das braucht zu viel theoretischen Input und führt zu wenig hilfreichen Erkenntnissen.

(5) Abschluss, Ergebnissicherung [5′]

Hier bieten sich mehrere Möglichkeiten an:

  1. Die Lehrperson visualisiert, welche Einsichten gewonnen worden sind – evtl. durch eine Beschriftung des Textes, eine Mindmap etc.
  2. Die Lehrperson spielt noch einmal Große mit Bach ab und lädt die Klasse ein, die Zeichnung zu überarbeiten.
  3. Die Lehrperson zeigt das Bild, das Große verwendet (mit der entsprechenden Quellenkritik, Handschrift nicht von Kafka, Bild von David Caspar Friedrich) und diskutiert, ob das dem Text entspricht.