Deutschmatur 2021 – über den Stellenwert von Literatur und Prüfungen postcovid

»Maturprüfungen sind nicht mehr zeitgemäß«, habe ich vor einem Jahr geschrieben, als die Abschlussprüfungen an Schweizer Gymnasien weitgehend abgesagt wurden. Schon vor sieben Jahren habe ich das Problem etwas ausführlicher analysiert:

Die Maturprüfung gibt vor, es sei klar, was man wissen muss und wie man es wissen muss. Diese Klarheit hat sich längst aufgelöst.

Dieses Jahr habe ich wieder Maturprüfungen durchgeführt. Speziell an meiner Situation im Kanton Zürich: Ich kann die Prüfungen komplett autonom gestalten. Die Schüler*innen meiner Abschlussklassen erhalten schriftlich und mündlich Themen, die ich für sie erarbeitet habe.

Da ich im Unterricht auf Prüfungen weitgehend verzichte, tue ich mir schwer, so gewichtige, aber isolierte Prüfungen durchzuführen.

Bei der schriftlichen Prüfung ist allein der Rahmen absurd: Die Schüler*innen müssen in vier Stunden einen längeren Text schreiben, ohne freien Netzzugang zu haben (wir arbeiten mit einer auf Wörterbücher eingeschränkten Whitelist). Hier habe ich mich auf einen intensiven Dialog mit der Klasse eingelassen und versucht Themen zu finden, die für die Jugendlichen attraktiv sind und ihnen dabei helfen, interessante Texte zu schreiben. (Das Alkoholthema war dabei wohl etwas zu nahe am Alltag der Jugendlichen, so dass nicht alle Texte genügend reflexive Distanz aufwiesen.)

Hier das Ergebnis: Maturprüfung Wampfler 2021

Die mündliche Prüfung ist eine Literaturprüfung. Hier hadere ich schon länger mit den Kanonvorgaben. Die Schüler*innen bereiten »10 Pensen« vor. Ich habe explizit verlangt, dass eines der Pensen kein schriftsprachlicher Text ist (sondern ein Computerspiel, ein Musikalbum, ein Film etc.). Zudem habe ich – in Abweichung vom Standard – vorgegeben, dass ein weiterer Text ein Sachtext sein soll. Obwohl ich im Unterricht sehr diverse Texte gelesen habe, hat sich die Klasse sehr stark auf kanonisierte Texte bezogen. Folgende habe ich für die heutige Prüfung ausgewählt:

Gruppe 1: Kanon
Kafka – Das Urteil (1913)
Kafka – Der Process (1925)
Süskind – Das Parfum (1985)
Frisch – Homo Faber (1957)
Schnitzler – Der grüne Kakadu (1898)
Schnitzler – Traumnovelle (1926)
Zweig – Schachnovelle (1941)
Hoffmann – Sandmann (1816)
Klüger – weiter leben (1992)
Schiller – Maria Stuart (1800)
Büchner – Woyzeck (1837)
Hauptmann – Bahnwärter Thiel (1888)
Brecht – Der gute Mensch von Sezuan (1940)
Lessing – Miss Sara Sampson (1755)
Jelinek – Klavierspielerin (1983)
Kästner – Fabian (1931)
Goethe – Werther (1776)
Dürrenmatt – Die Physiker (1969)

Gruppe 2: Gegenwartsliteratur
Stanišić – Herkunft (2015)
Wenzel – 1000 Serpentinen Angst (2020)
Herrndorf – Tschick (2010)

Gruppe 3: Sachtexte
Schultz – Was darf man sagen? (2020)
Stokowski – Untenrum frei (2016)
Hüther – Würde: Was uns stark macht (2018)
Fankhauser – Tagebuchtage, Tagebuchnächte (2020)

Gruppe 4: Audio und Film
Haneke – Das weiße Band (2009)
Khaet/Paatzsch – Masel Tov Cocktail (2020)
Hellenthal – Searching Eva (2019)
Sido – Maske (2004)
Xen – Ich gäg mich (2015)
DiMartino/Konietzko – Avatar (2005-2008)
Schmid – Requiem (2006)

Gerne würde ich den Anteil nicht-kanonischer Texte noch ausdehnen – aber das darf nicht zu einer Belastung für Schüler*innen werden. Meine Aufgaben müssen sich auf die Vorbereitungen der Lernenden beziehen, eine Prüfung muss berechenbar sein und den Erwartungen entsprechen. Zudem müssen die Werke so beschaffen sein, dass die Schüler*innen substanzielle Aussagen dazu machen können. Das ist heute problemlos gelungen.

Für die Prüfungen habe ich Auszüge zur Verfügung gestellt – entweder abgedruckt oder auf einem Tablett mit Kopfhörer. Da alle Klassen, die ich in den nächsten Jahren prüfen werde, im BYOD-System arbeiten, wird es naheliegend sein, dass sie dann auch mit ihren persönlichen Endgeräten die Prüfungsvorbereitung bestreiten.

Ein Kommentar noch zu einem Absatz aus einem NZZ-Artikel von Liessmann – er lautet wie folgt:

Die Literatur ist in der Krise. Die Zahl der Leser nimmt ab, aus den Lehrplänen ist die anspruchsvolle Belletristik längst verschwunden, literarische Bildung gilt als letztes verwerfliches Residuum des Bildungsbürgertums, und der klassische Kanon erscheint als Dokument rassistischer und kolonialistischer Herrschaftspraxis und soll seine Gültigkeit verlieren. Wenn in der Öffentlichkeit über Literatur diskutiert wird, dann nicht über Texte, Formen und Stile, sondern über die Migrationshintergründe der Autoren und die hinreichenden Diskriminierungserfahrungen von Übersetzern afroamerikanischer Lyrik.

Die Belletristik ist nicht aus den Lehrplänen verschwunden, zumindest in der Schweiz nicht. Die diverseren Texte sind aus meiner Sicht die anspruchsvolleren – gerade für Jugendliche. Die Vorstellung, Goethe oder Max Frisch seien schwieriger als Wenzel oder Stanišić, deckt sich nicht mit meinen Erfahrungen im Literaturunterricht. Die Kritik am Kanon macht literarisches Lernen nicht flacher, sondern reicher – an Perspektiven und Themen. Deshalb möchte ich meinen Unterricht hier weiter entwickeln.