Rückblick 20. September
MZ
Zentrale Fragestellung der Sitzung
Die beiden Bildungsziele des Gymnasiums bestehen bekanntlich aus der Studierfähigkeit und der allgemeinen, vertieften Gesellschaftsreife. Besonders letzteres Ziel verfolgt man im Deutschunterricht mit der Lektüre und Diskussion literarischer Texte aus dem Kanon der Literaturgeschichte. Allerdings ist es aus verschiedenen Gründen nicht ganz einfach, dieses Bildungsziel zu erfüllen: Es stellt sich zuerst die Frage nach dem repräsentativen Gehalt literarischer Texte.
Nach welchen Kriterien wählt man diese aus dem Kanon aus und wodurch entsteht genau ein ‚exemplarischer Charakter‘? Zum einen besteht so die Gefahr einer Willkür bei der Textauswahl, die im Unterricht schnell in eine Stoffüberlastung umschlagen kann. Zum anderen droht auch eine zu starke, didaktische Reduktion, was von der Digitalisierung noch eher begünstigt als verhindert wird: Zwar gelangt man mithilfe des Internets etc. viel schneller an eine grössere Menge an Informationen als früher. Allerdings neigen diese Informationen zu Fragmentierung, Visualisierung, Minimalisierung und Standardisierung, was sich auch in analogen Medien, wie in der Darstellung der Literaturgeschichte in neueren Lexika, niederschlägt. Beim Literaturunterricht am Gymnasium muss man sich als Lehrperson deshalb fragen, wie man den komplexen germanistischen Wissenschaftsanteil aufrechterhalten kann.
Gerade weil all diese offenen Fragen einen grossen Einfluss auf die Semesterplanung einer Lehrperson im Fach Deutsch ausüben, ist es wohl auch spannend, diese im Literaturgeschichtsunterricht oder zumindest zu dessen Beginn offen aufzugreifen und mit den Schüler*innen kritisch zu reflektieren. Dabei lohnt es sich beispielsweise darüber nachzudenken, wie ein Kanon entsteht, was dieser ein- und was er möglicherweise ausschliesst sowie was mit dem Begriff der Literaturgeschichte genau gemeint ist.
Stephen Greenblatt: Was ist Literaturgeschichte?, 2000
Ein paar interessante Gedanken zum Begriff der Literaturgeschichte findet man in Stephen Greenblatts Essay: Was ist Literaturgeschichte?, der sich auch gut für den Einstieg in den Literaturgeschichtsunterricht am Gymnasium eignet. Obwohl man sicher behaupten kann, dass die Geschichte der Literatur begann, als Menschen auf irgendeine Weise damit anfingen, Texte zu produzieren, sei es schriftlich oder mündlich, koppelt Greenblatt den ‚Nullpunkt der Literaturgeschichte‘ an die Lesefähigkeit des allgemeinen Volks und an den Einfluss von Literatur auf die Gesellschaft. Das leitet er von einer besonderen juristischen Praxis des Mittelalters ab, dem sogenannten ‚Vorrecht des Klerus‘, das straffälligen Geistlichen die Todesstrafe ersparte. Als Erkennungsmerkmal der Kleriker galt dabei ebenjene Lesefähigkeit. Das gestaltete sich allerdings zunehmend schwieriger, als sich die Literalität langsam aber sicher unter den Laien, d.h. unter den niederen Ständen und dem Volk auszubreiten begann.
An die zentralen Aussagen von Greenblatts Text lassen sich beispielsweise folgende Themen und Fragen zur Diskussion im Unterricht anknüpfen:
- Literatur und Kriminalität
- Sozialkritische Fragen: Stände, Literarisierung
- Was bedeutet lesen können heute?
- Wie soll man (richtig) lesen (Didaktik)? Wie lernt man das?
- Literatur formt Menschen
- Jugendwort ‚legit‘
- Was ist Literatur? Was ist Geschichte? Elitediskurse? – und wie umgehen wir das?
SM
Die Lektion begann mit einer Übersicht über das Semesterprogramm und einer Vorstellung der verschiedenen Hilfsmittel und Materialien, welche den Studierenden zur Verfügung stehen. Anschliessend wurde der Text Lesen als Entscheidung zwischen Leben und Tod von Stephen Greenblatt besprochen. Der Text behandelt die ungewöhnliche Tatsache, dass man in der frühen Neuzeit der Todesstrafe entgehen konnte, wenn man Lesen konnte. Dies war möglich, da Angehörige des Klerus dem Kirchenrecht unterstanden und dieses keine Todesstrafe kennt. Kleriker konnten lesen, anders als der Grossteil der Bevölkerung in der frühen Neuzeit und deshalb war es mit einem einfachen Lesetest möglich herauszufinden, ob jemand Kleriker war oder nicht. So war zumindest die Theorie. Denn natürlich versuchten auch nicht-Kleriker und Analphabeten der Todesstrafe zu entgehen, indem sie versuchten den Lesetest zu bestehen. Greenblatt berichtet von Fällen, in welchen das Lesen bloss vorgetäuscht wurde oder der Text, welcher am häufigsten für den Text verwendet wurde, auswendig gelernt wurde. Scheinbar gelang es aber immer mehr Personen der Todesstrafe durch ihre Lesefähigkeit zu entgehen, denn es wurde üblich, solche, welche einmal der Todesstrafe entgangen waren mit einem heissen Eisen zu markieren. Die Freigelassenen wurden mit dem Anfangsbuchstaben des ihnen angelasteten Verbrechens markiert, wie etwa T für theft. Greenblatt hebt hervor, dass die so markierten Menschen durch ihre Lesefähigkeit ironischer Weise selbst zu lesbaren Objekten wurden. Diesen Umstand bezeichnet Greenblatt als ‘Nullpunkt der Literaturgeschichte’.
Dieses letzte Statement Greenblatts war im Seminar nicht unumstritten: Einerseits warf es die Frage auf, ob den die Literatur vor diesem Nullpunkt nicht zur Literaturgeschichte gehören würde. Andererseits wurde diskutiert, ob Greenblatts Konzept von Literaturgeschichte von einer Definition ausgeht, bei welcher der Einfluss der Literatur auf die Gesellschaft ausschlaggebend ist. Ich bin der Meinung, dass das Brandmarken der lesefähigen Verurteilten, eine rein praktische Praxis war und die damaligen Verantwortlichen den Menschen damit keine zusätzliche symbolische Wirkung einschreiben wollten. Deshalb scheint mir diese Praxis keinen speziellen Moment in der Literaturgeschichte darzustellen, sondern eher die Tatsache, dass die Menschen in der frühen Neuzeit durch die Fähigkeit zu Lesen plötzlich einen massiven Vorteil gegenüber Analphabeten erlangen konnten.
Greenblatts Text ist für Lernende nicht leicht zu vermitteln und deshalb gingen wohl auch die Vorschläge der Seminarteilnehmer stark auseinander, wie dies zu bewerkstelligen sei. Gewisse Studierenden schlugen einen sozialkritischen Ansatz vor, der sich mit dem Thema «Kriminalität und Literatur» beschäftigt. Andere Studierende schlugen vor, die Lernenden über ihre eigenen Lesegewohnheiten oder die heutigen Lesegewohnheiten im allgemeinen nachdenken zu lassen. Ein anderer Ansatz beschäftigt sich mit der Frage, was ‘richtiges Lesen’ eigentlich bedeutet, vermutlich eben nicht das Auswendiglernen, sondern das Entziffern und Verstehen.
Im Deutschunterricht der Gymnasien müssen literarische Kompetenzen aufgebaut werden, literarische Bildung vermittelt und das Lernen ermöglicht werden. Hinzu kommt der Auftrag der ‘höheren Gesellschaftsreife’, welche im Falle der Literaturgeschichte von den Lernenden einen vertieften, relativ breiten Kenntnisstand erwartet. Der Auftrag der ‘höheren Gesellschaftsreife’ gibt allerdings keine Angabe dazu an, welche Werke, Epochen und Autoren nun tatsächlich verpflichtend sind. Es besteht die Gefahr, dass die Lehrperson im Extremfall auf das Behandeln schwieriger Werke verzichtet und nur noch einfach verständliche, moderne Texte wählt. Ich bin der Meinung, dass man hier sinnvoll abwägen muss. Ein sehr schwieriges Werk zu behandeln, welches nur wenig Anknüpfungspunkte für die Lernenden bietet, macht aus meiner Sicht wenig Sinn. Aber man sollte natürlich nicht nur Texte wählen, welche der privaten Lektüre der Lernenden entsprechen, da die Schule ja gerade auch der Ort sein kann, an welchen man neuen, ungewohnten Texten begegnet. Momentan besteht ein Trend, die für verbindlich erklärten Inhalte der Literaturgeschichte in komprimierter, reduzierter Form zu vermitteln. Dies führt zu einer Reduzierung auf einzelne Hauptwerke, Schlagwörter und Autoren. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Studiumsinhalte dem Schulniveau angepasst werden bis ein passender Schwierigkeitsgrad erreicht ist.
Die anschliessende menti- Umfrage offenbarte in bestimmten Punkten die Schwierigkeit sich auf einen Schul-Kanon festzulegen. Das Werk Faust I etwa, wurde als wichtiges Werk wahrgenommen, jedoch hielt es die Mehrheit für den Schulunterricht eher ungeeignet. Die Gruppe bestimmte ausserdem die literarischen Epochen der Klassik, Romantik und Moderne als besonders wichtig. Es ist nicht erstaunlich, dass die Klassik in dieser Umfrage so hohe Wertschätzung erfahren hat, da viele ihrer Werke als Meisterwerke angesehen werden und sie im ‘Kanon’ deshalb breit vertreten ist. Doch gerade diese Epoche ist mit ihrem komplexen Verständnis von Stil, Ästhetik und den Verweisen auf die klassischen Antike nicht leicht zu vermitteln. Es zeigte sich wiederum das Dilemma, dass was als verbindlich erachtet wird, nicht am einfachsten zu vermitteln ist. Es zeigte sich auch, dass Epochen, deren Werke nur vereinzelt in den Kanon Einzug gehalten haben, am unteren Ende der Rangliste endeten, wie etwa der Vormärz und der Barock. Es besteht die Gefahr, dass man Epochen wie die Klassik, Romantik und Moderne, die als ‘wichtig’ erachtet werden sorgfältig behandelt und den Lernenden so auch die Kenntnisse über diese Epochen und deren Werke weitergibt. Epochen, welche als eher ‘unbedeutend’ wahrgenommen werden, werden in der Folge nur flüchtig behandelt. Dies wird auch den weiteren Werdegang der Lernenden prägen, welche für Prüfungen, Schularbeiten etc. verständlicherweise auf Epochen und Werke zurückgreifen, welche sie bereits gut kennen. Unbekanntere Epochen und Werke fallen so zusehends durch die Maschen, denn vermutlich werden nur wenige Lernende aus Eigeninteresse bewusst wenig bekannte Epochen und Werke wählen.