Falsche Themen im Deutschunterricht

In den letzten Wochen habe ich unterschiedliche Diskussionen zur Deutschdidaktik geführt, die auf ein ähnliches Motiv hingewiesen haben: Bei der Auswahl der Themen, der Lektüre, der Konzepte oder Begriffe, die Gegenstand des Deutschunterrichts sind, kommen oft Kriterien zum Einsatz, die nicht auf das sprachliche, literarische oder mediale Lernen von Schüler*innen bezogen sind.

Drei Beispiele dürften das verdeutlichen:

  1. Erörterungen als Textsorte
    Während erörtern ein sinnvoller schreibdidaktischer Prozess ist, handelt es sich bei der Erörterung um eine in mehrfacher Hinsicht problematische Textsorte: Schüler*innen schreiben so oft schematische Texte mit gesuchten Argumenten, die es so außerhalb der Schule nicht gibt.
    Dennoch halten sich Erörterung als Thema im Deutschunterricht. Warum? Weil es eine Textsorte ist, zu der es eine Theorie gibt: Der Aufbau der Erörterung ist lehr- und bewertbar, er ist auf vielen Arbeitsblättern und in Lehrwerken pfannenfertig vorgearbeitet.
  2. Auswahl von Lyrik
    Welche lyrischen Texte sollten Schüler*innen weshalb lesen? Das ist eine wichtige Frage, die oft etwas verzerrt beantwortet wird. Weil bestimmte Reim- oder Metrikphänomene durchgenommen werden (müssen), werden Gedichte ausgewählt, in denen sie sich finden. Müssen Schüler*innen wissen, was ein Alexandriner ist? Das scheint eine ketzerische Frage zu sein, sie bedeutet aber im Kern: Nur wenn es unabhängig vom Versmaß gute Gründe gibt, Gedichte mit Alexandrinern zu lesen und ihr Verständnis davon abhängt, dass dieses Konzept bekannt ist – dann müssen Schüler*innen das wissen.
  3.  Theorie der Novelle
    Novellentheorie ist literaturwissenschaftlich nur noch ein historisches Phänomen: Eine Novelle ist nichts, was sich kontext- und zeitlos definieren ließe. Unterschiedliche Vorstellungen und Konzeptionen von Novellen existieren nebeneinander, sie sind nicht widerspruchsfrei in eine Definition zu überführen, die dann auf literarische Texte angewendet werden kann. Die bekannte Definition von Goethe ist etwa nicht maßgeblich, sie sagt, was Goethe zu einem Zeitpunkt seines Schaffens für wesentlich gehalten hat, nicht mehr. Schüler*innen lernen allenfalls etwas Falsches, wenn sie erarbeiten sollen, was eine Novelle ist. (Genauso ist das bei vielen anderen Textsorten.)

Auf den Punkt gebracht: Im Deutschunterricht werden zu oft falsche Themen unterrichtet. Falsch in doppelter Hinsicht: Sie bilden weder den Stand der Wissenschaft ab noch helfen sie Lernenden dabei, sinnvolle Kompetenzen zu erwerben. Der Grammatikunterricht überzogen damit: Da werden normative und begriffliche Konzepte vermittelt, die überholt sind und niemandem dabei helfen, eine Sprache besser zu verstehen, zu sprechen oder zu schreiben.

Weshalb passiert das? Aus meiner Sicht gibt es drei Gründe:

  1. Das Bedürfnis, Konzepte lehren zu können. 
    Wer lehrend vor eine Klasse tritt, braucht einen fassbaren Stoff, den Schüler*innen dann  umsetzen und anwenden können und der sich dann prüfen lässt (»Straßenlampen-Prüfungskultur«).
    Nehme ich mit einer Klasse durch, was eine Novelle ist, dann kann ich bei einer Prüfung eine Frage dazu stellen und diese bewerten. Bei der Korrektur kann ich mich darauf abstützen, was ich der Klasse gezeigt habe; ich schaffe eine gewisse Verbindlichkeit. Ob der Inhalt aber relevant ist, ist völlig egal, die Prüfung schafft eine Art Selbstzweck.
    Das Bedürfnis zu lehren hängt aber nicht nur mit Prüfungen zusammen, sondern genauso mit Didaktik. Wie sollte sich eine gute Lektion anfühlen? Hier spielen Erwartungen auf dem Referendariat eine große Rolle, dass eine gute Lehrperson Wissen vermitteln sollte. Relevantes Wissen ist stark kontextbezogen und komplex. Es lässt sich nicht so auf den Punkt bringen, wie die Aufbauschemata einer Erörterung. Eine gute Argumentation ist mehr als das, was sich mit einem Arbeitsblatt vermitteln lässt, es hängt davon ab, von welchen Argumente ich wen überzeugen will. Die falschen Themen im Deutschunterricht sind immer unterkomplex und vom Kontext gelöst.
  2. Die Tradition. 
    Wir wissen vom Unterricht, den wir als Schüler*innen erlebt haben, was die richtigen Themen sind für den Deutschunterricht. Wir werden von älteren Kolleg*innen beraten. Wir kennen Erwartungen von Eltern – wir orientieren uns an dem, was früher gemacht wurde.
  3. Bequemlichkeit und fehlende Arbeitszeit. 
    Guter Deutschunterricht muss sich agil aus den Lernbedürfnissen von Schüler*innen ergeben. Dafür haben aber wenige Lehrpersonen Zeit, sie können den Vorbereitungsaufwand dafür nicht leisten, weil sie auch korrigieren, Konzepte entwickeln etc. müssen. Also kürzen sie ab, greifen auf Lehrbücher und Materialien zurück, die Verlage bereitstellen. Darin findet sich dann viel von den falschen Themen, weil diese Materialien ja gerade Komplexität reduzieren und Kontexte entfernen müssen.