Straßenlampen-Literaturgeschichte und #breiterkanon

Der Straßenlampen-Effekt beschreibt nach Beat Döbeli das Vorgehen, etwas dort zu suchen, wo Licht hinfällt – und nicht dort, wo es wahrscheinlich ist. Er betrifft besonders Prüfungen: Sie enthalten oft Aufgaben, die sich leicht korrigieren lassen, die keine langen Diskussionen nach sich ziehen – nicht unbedingt solche, die mit starken oder relevanten Lerneffekten verbunden sind.

Das aktuelle Seminar zur Literaturgeschichtsdidaktik hat für mich zur Erkenntnis geführt, dass auch Literaturgeschichte den Straßenlampen-Effekt kennt, besonders, wenn es um kanonische oder epochenspezifische Literatur geht. Epochen sind konstruiert – sie entstehen, wenn Differenzen zwischen Texten, Autor*innen, literarischen Verbreitungsformen, Schreibbedingungen etc. ausgeblendet werden und bestimmte Merkmale als bestimmend, wichtig gesetzt werden.

Wenn nun diese Setzung nun erfolgt ist und z.B. die Aussagen von Fontane oder Keller zu ihrem Verständnis von Realismus als der Kern der realistischen Literatur verstanden werden, dann werden literarische Texte für den Unterricht da gesucht, wo diese Setzung erkennbar ist (oder wo eine klare Differenz dazu sichtbar ist). Die Literaturauswahl sollte Schüler*innen helfen, Merkmale zu erkennen, die in der realistischen Literatur vorhanden sind, aber diese Merkmale selber sind konstruiert und die Texte werden so ausgewählt, dass die Konstruktion bestätigt wird.

Der Strassenlampen-Effekt ist literaturgeschichtlich eine Art von Confirmation Bias: Literatur wird kanonisch so zugespitzt, dass sich darin das findet, woran man schon zuvor geglaubt hat.

Das verhindert umfassendes literarisches Lernen – ein Grund, weshalb #breiterkanon ein so wichtiges Projekt ist, das versucht, diese künstliche Verengung zu umgehen und erweitern. Sobald neue Perspektiven und Methoden verwendet werden, um Literatur sichtbar und lesbar zu machen, werden künstliche Muster unterlaufen, die letztlich nichts anderes als Kristalle der Tradition sind. Aber nicht hilfreich, um Schüler*innen mit Literatur einen Zugang zu Kultur finden zu lassen.