Von der »Tortenstück«-Literaturgeschichte wegkommen
Eine Epoche ist kein Tortenstück, sondern eben eine Baumaßnahme mit verschiedenen ›Ebenen‹.
Diese Aussage aus dem Realismus-Handbuch von Hugo Aust (S. 7) hat mich heute in einem Gespräch im Seminar und in einer Diskussion mit einer Kollegin beschäftigt. Was mein Aust? Er schreibt weiter:
So ist grundsätzlich mit Schichtungen und Überschneidungen zu rechnen, deren spezifische Grenzen erst dort sichtbar werden, wo die Besucher der ›Umbaulandschaft‹ für sich sein, d. h. einen ›Raum‹ für sich und nach ihrem Geschmack haben wollen.
Aust weist darauf hin, dass die Perspektive der Literaturgeschichte mit Selektion und Konstruktion zu tun haben. Wer einen Raum nach seinem Geschmack einrichtet, während das Haus gerade umgebaut wird, macht die Dynamik unsichtbar, das Vorher und das Nachher – genauso wie die anderen Räume des Hauses. Das Haus, so mein Verständnis, steht für ein breites Verständnis von Kultur in einem gesellschaftlichen Zusammenhang. Zur Kultur gehören Weltanschauungen, Ökonomie, Technik, Bildung, Kunst, Arbeitsformen, Lebensverhältnisse, Architektur etc.
Betrachten wir diese Zusammenhänge einmal an einem konkreten Textbeispiel, dem Gedicht »Erstes Liebeslied eines Mädchens« von Mörike. Hier die Version aus »Gedichte« von 1867:
Was im Netze? Schau einmal!
Aber ich bin bange;
Greif ich einen süßen Aal?
Greif ich eine Schlange?Lieb ist blinde
Fischerin;
Sagt dem Kinde,
Wo greift’s hin?Schon schnellt mir’s in Händen!
Ach Jammer! o Lust!
Mit Schmiegen und Wenden
Mir schlüpft’s an die Brust.Es beißt sich, o Wunder!
Mir keck durch die Haut,
Schießt ’s Herze hinunter!
O Liebe, mir graut!Was tun, was beginnen?
Das schaurige Ding,
Es schnalzet da drinnen,
Es legt sich im Ring.Gift muß ich haben!
Hier schleicht es herum,
Tut wonniglich graben
Und bringt mich noch um!
Zur Entstehung schreibt Simone Weckler im Mörike-Handbuch, es sei 1828 entstanden und 1836 zum ersten Mal gedruckt worden:
Nicht als »langes und breites Hochzeitslied«, sondern als »Liebesliedchen« schickt M. dieses Gedicht am 7. Juli 1828 an den Komponisten Ernst Friedrich Kauffmann mit der Anweisung: »Sez es in Musik, gib Ihr am BrautMorgen einen Kuß und frag Sie, wenn sie’s nun absingt, ob das Lied nicht, auf ein Haar, alle die Seeligkeit aus druckt, die Sie in den ersten Tagen Eurer Liebe empfunden«. (S. 113f.)
Das Lied wurde später vertont, zuerst von Hugo Wolf. Es überschreite, so Weckler, »jedenfalls die Grenzen biedermeierlicher Dezenz deutlich«. Die Zuordnung von Mörike zur Epoche des Biedermeier wird im Vorwort des Handbuchs durch Inge und Reiner Wild, die es herausgegeben haben, problematisiert und differenziert:
Mörikes produktivste Zeit fällt in die Epoche des Biedermeier. Mit seinem Naivitätsprogramm, seinem »Kult der Einzeldinge« (Friedrich Sengle) und dem Rückzug in eine ästhetische Gegenwelt der ironisch oder elegisch gebrochenen Idylle ist er zutiefst von der Signatur dieser Epoche geprägt. Enge des Lebensraums und Weite des kultur- und literarhistorischen Blicks sind die beiden Pole dieses Lebens, aus deren Antagonismus oder Vermittlung Mörikes Produktivität resultiert. Sein Werk ist ein Indikator für kulturelle und ästhetische Umbruchprozesse wie für Wandlungen des Identitätskonzepts im Zuge von Modernisierungsprozessen beim Übergang zur arbeitsteiligen Industriegesellschaft; es besitzt trotz politischer und gesellschaftlicher Abstinenz an der Oberfläche der Texte eine sozialpsychologische Tiefendimension, die es vielfach noch zu erschließen gilt. […] Mörike nimmt sowohl Themen und Formelemente der deutschen Klassik als auch der Romantik auf. […] Der antikisierende Ton der Lyrik bekommt durch die romantisch vermittelte Vermischung mit dem Bildbereich und dem Stil der Volksliedtradition eine bemerkenswerte kulturelle Tiefendimension. […] Literarhistorisch kommt Mörikes Dichtung so eine Zwischenstellung zu; Mörikes Eigenständigkeit, seine Unverwechselbarkeit gründet gerade darin, dass er angesichts fortgeschrittener Modernisierungsprozesse noch einmal die Ansprüche ›klassischer‹ Ästhetik mit den Erfahrungen der Moderne zu vermitteln unternimmt.
Das Gedicht darf also als Beleg für »Modernisierungsprozesse« gelesen werden, auch für »Wandlungen im Identitätskonzept«. Sozialpsychologisch weist es zusammen mit der Briefstelle auf eine kritische Sicht auf bürgerliche Sexualität und Geschlechternormen hin, die aber nur in einer Fantasie eines Mannes aufflackern kann, der die sexuelle Wahrnehmung einer fiktiven und einer realen Frau imaginiert.
Wenn wir nun aus der Sicht der Tortenstück-Literaturgeschichte auf das Gedicht blicken (hier Yomb May, Epochen der deutschsprachigen Literatur), dann fällt es zwischen die Kategorien. Ja, hier geht es um »Familie«, aber nicht um eine »heile Welt«, keine »Ordnung« oder »Resignation«, auch keine »Unterordnung unter das Schicksal« oder »traditionelle Werte«. Das Gedicht macht deutlich, dass Mörike toxische Aspekte von Liebe und Sexualität zumindest bildlich verfügbar machen kann. Er prangert dabei aber keine »soziale[n] und politische[n] Missstände« an. Tortenstück-Literaturgeschichte kann nur sagen: Das Gedicht passt nicht in vorhandene Kategorien.
Wie sieht es mit Umbau-Literaturgeschichte an? Wenn wir das Gedicht nun mit einem klar romantischen Liebesgedicht (z.B. Günderrodes »Der Kuss im Traume«) und einem klar realistischen (z.B. Droste-Hülshoffs »Brennende Liebe«) vergleichen, so können Dynamiken und Veränderungen in den Vordergrund rücken. Formale, sprachliche, thematische, psychologische – aber auch biografische. Wie haben diese beiden Autorinnen und der Autor gelebt, geschrieben? Welche Vorstellungen von Liebe und Beziehungen gibt es in ihren Werken? Was war in ihren Leben möglich, was nicht?
So entstehen Fragen, die mehr sichtbar machen, als Epochenmerkmale können. Diese richten den Blick auf »Straßenlampen-Literaturgeschichte«, die anhand weniger Werke stabile Kategorien und fixe Abgrenzungen postuliert, die es so nie gegeben hat. Die Sicht auf die Epoche als »Baumaßnahme« kann keine Vollständigkeit beanspruchen, aber systematischer argumentieren, vertiefen und von den Texten ausgehen, nicht von willkürlichen Merkmalen. Mörike bleibt ein Autor des Biedermeier – sein Gedicht zeigt aber eine Subversion von Vorstellung des Biedermeier, dass Sexualität tabuisiert werden müsse – und gleichzeitig auf eine Bestätigung: Die Sexualität ist eine im Rollengedicht distanzierte und auf eine Bildebene übertragene, die dann im Brief noch einmal auf eine fremde Beziehung verschoben wird.
Die Frage: »Was ist Biedermeier-Literatur?« kann in einer differenzierten Vorstellung von Literaturgeschichte aufgelöst werden und eine andere Form finden: »Wie verändern sich die poetischen Darstellungen von (weiblicher) Sexualität in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts?«