Schüler*innen (nicht) mehr lesen lassen

Im gymnasialen Deutschunterricht hat die Lektüre anspruchsvoller literarischer Texte einen wichtigen Stellenwert. Aus zwei Gründen entziehen sich Schüler*innen teilweise dem Anspruch, diese Texte zu lesen: Erstens lesen einige Gymnasiast*innen privat nicht, so dass es keine Synergie zwischen ihrer Unterhaltung im Alltag und den Aufgaben des Deutschunterrichts gibt, wie das eigentlich vorgesehen wäre (die Lektüre literarischer Texte sollte auch zu Genuss führen und als etwas Wertvolles wahrgenommen werden können). Zweitens sollte die Lektüre meist in der außerschulischen Lernzeit erfolgen. Diese wird aber primär für die Prüfungsvorbereitung genutzt, so dass keine Zeit mehr bleibt.

Es gibt also Schüler*innen, welche die aufgegebenen Texte für den Deutschunterricht kaum lesen. Patric Marino hat das im Artikel »Die Deutschstunde« fürs NZZ Folio ausführlich dokumentiert (evtl. Paywall, Privatkopie gerne per Mail). Oft führt das zu einer Fiktion des Lesens: Schüler*innen tun so, als hätten sie Texte gelesen, von denen sie allenfalls Zusammenfassungen studiert haben, Lehrpersonen gehen im Unterricht davon aus, Texte seien gelesen worden, obwohl das nicht der Fall ist.

Wie also sollte man als Deutschlehrperson mit dem Problem umgehen? Das habe ich kürzlich mit einer Kolleg*in diskutiert. Hier versuche ich, meine Haltung dazu etwas genauer zu notieren.

  1. Den Wert des Lesens vermitteln
    Die Anzahl Bücher, welche die Eltern besitzen, ist ein gutes Kriterium dafür, wie einfach es Jugendlichen fällt, schulisch erfolgreich zu sein. Dass Lesen einen Wert hat und keine Zeitverschwendung ist, muss in der Schule vermittelt werden. Diese Grundeinsicht kann nicht vorausgesetzt werden, sie ist nicht für alle Jugendlichen selbstverständlich. (Menschen können auch glücklich leben, wenn sie nicht lesen.) Der Unterricht sollte immer wieder deutlich machen, wozu lesen wichtig ist. Das gelingt nicht immer, wenn einfach ein kanonischer Klassiker nach dem anderen gelesen wird. Für Schüler*innen fühlt sich das oft nach more of the same an.
  2. Offen und ehrlich sein
    Schüler*innen sollen mir sagen, wenn sie nicht lesen – am besten bevor Unterricht stattfindet. Guter Unterricht geht von einer realistischen Einschätzung aus und simuliert nichts, was nicht stattgefunden hat.
  3. Zum Lesen einladen
    Ich lade Schüler*innen zum Lesen ein. D.h. ich zwinge sie nicht, sondern ich freue mich, wenn sie es machen. Es passieren gute Dinge, wenn sie es tun, wenn wir über Texte sprechen, die sie kennen.
  4. Im Unterricht gemeinsam lesen
    Der Flipped-Classroom-Gedanke sagt: Warum nicht einfach das, was Lernende in der Regel zuhause machen, im Unterricht machen lassen – und das, was im Unterricht geschieht, in der außerschulischen Lernzeit machen lassen? Flipped Literaturunterricht führt dazu, dass im Unterricht gelesen wird – und das Nachdenken über Literatur zuhause stattfindet.
  5. Unterschiedliche Zugänge zu Literatur schaffen
    Ich versuche immer wieder, aus anderen Perspektiven auf Texte zu blicken und Lektüreprozesse anders anzuregen. Im letzten Semester habe ich mit einer Klasse über Klopstocks Besuch in Zürich und die Schifffahrt auf dem Zürichsee von 1750 gesprochen. Im Anschluss haben wir dann gemeinsam ein Theaterstück geschrieben und die schwierige Ode gelesen, die plötzlich viel zugänglicher war, als das sonst der Fall gewesen wäre. (Dokumentation der Unterrichtseinheit)
  6. Verbindlichkeit durch Erwartungen, nicht durch Prüfungen
    Ich erwarte, dass Schüler*innen Texte lesen. In einem realistischen Umfang, teilweise in der Unterrichtszeit. Aber ich zwinge sie nicht durch Prüfungen dazu und ich habe Verständnis, wenn sie es nicht schaffen, sich nicht dazu motivieren können. Die Erwartung verschwindet dadurch nicht. Ich zeige ihnen durch meine Lektüre, was es bringt, Texte zu lesen, wie ein produktiver Umgang mit Lesen und Texten aussieht.