Femizid in der Literaturgeschichte
In den letzten Jahren habe ich drei Seminare zu Literaturgeschichte im Deutschunterricht durchgeführt (hier die Unterlagen von 2021 und 2023). Dabei ist für mich besonders deutlich geworden, dass die an vereinfachten Vorstellungen von Epochen orientierte Literaturgeschichte ein fundamentales Problem hat, für das ich zwei Bilder einleuchtend finde. Das erste ist das Bild der Strassenlampe:
Der Strassenlampen-Effekt ist literaturgeschichtlich eine Art von Confirmation Bias: Literatur wird kanonisch so zugespitzt, dass sich darin das findet, woran man schon zuvor geglaubt hat.
Das zweite Bild ist das des Umbaus – eine Epoche ist kein Tortenstück, sondern eine Art Renovation auf verschiedenen Ebenen.
Diese Einsichten haben bei mir den Drang ausgelöst, im Unterricht Wege zu finden, literaturhistorisch zu arbeiten, ohne dabei problematische Sichtweisen auf Epochen zu reproduzieren. Ein erster Versuch war, ein spezifisches historisches Ereignis zu ergründen – um dann Texte, die in diesem Kontext entstanden sind, zu analysieren und in eigenen Texten zu verarbeiten. Das habe ich mit Klopstocks Zürichsee-Gedicht hier gemacht.
Im aktuellen Semester habe ich mit einer Klasse ein längeres Projekt zu literarischen Darstellung von Femiziden gemacht. Alle Materialien finden sich hier. Im Folgenden ein paar Grundüberlegungen und eine auswertende Reflexion.
Die Idee war, eine fünfte Klasse Langzeitgymnasium (das ist das Jahr vor der Matur) mit einem gesellschaftlichen relevanten Thema und kanonischen Texten aus der Literaturgeschichte arbeiten zu lassen. Grundeinsichten zu Problematiken und Erzählungen aus der Gegenwart der Jugendlichen sollte die Basis für eine vertiefte Auseinandersetzung mit literarischen Texten darstellen. Der Verlauf der Einheit lässt sich vereinfacht wie folgt darstellen:
- Viele Schüler:innen der Klasse belegen das Schwerpunktfach Wirtschaft und Recht, weshalb ich ihnen zum Einstieg eine juristische Auseinandersetzung mit der Definition und dem Begriff Femizid (und Alternativen) angeboten habe. Im Hintergrund war eine semantische Konzeption von weiter und enger Begriffsverwendung Thema.
- Eine erste Anwendung fand in Bezug auf die Frage statt, wie Femizide in aktuellen populärkulturellen Erzählungen dargestellt werden und wo entsprechende Probleme liegen. Dazu hat sich die Klasse ein Audio-Feature angehört und eigene literarische Ideen für einen verantwortungsbewussten narrativen Umgang mit der Thematik überlegt.
- Danach hat die Klasse drei literarische Texte gelesen, die zum Kernkanon des Deutschunterrichts gehören:
a) Emilia Galotti
b) Woyzeck
c) Bahnwärter Thiel
Dabei stand die Frage im Vordergrund, wie die Frauenmorde dargestellt werden, welche gesellschaftlichen Annahmen getroffen werden, welche Erklärungen für die Tötungen gegeben werden und wie Leser:innen die Femizide insgesamt wahrnehmen. Nebenbei wurde eine Art historische Entwicklung sichtbar, die sich an den Zugängen zum Thema offenbart hat. - Unterbrochen wurde die Lektüre durch eine Analyse des Netflix-Films «Woman of the Hour» (Anna Kendrick, USA 2024), in dem historische Vorgänge unter einer aktuellen Perspektive zugänglich werden.
Zum Schluss haben Schüler:innen Lernlandkarten gestaltet und zwei Reflexionen verfasst, in denen sie insbesondere das Verhältnis «hoher», kanonischer Literatur zu aktuellen gesellschaftlichen Themen reflektiert haben. So sollte erstens deutlich werden, dass Verbrechen, menschliches Handeln, literarische Darstellungen stark von gesellschaftlichen und historischen Bedingungen geprägt sind. Zweitens war es so möglich, eine kritische Distanz zur Reclam-Literatur zu schaffen, welche zeigt, dass unter Umständen gerade durch eine kunstvolle Bearbeitung von Verbrechen problematische Sichtweisen normalisiert werden.
Ich werde diese Art der Themenbearbeitung in den nächsten Semestern wiederholen – allerdings mit anderen thematischen Reihen, aber mit einem ähnlichen Zugang zu historischen Entwicklungen.