Verwaltungsgericht beurteilt Aufsatzbewertung

Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich hat eine Beschwerde gegen die Bildungsdirektion teilweise gutgeheißen. Der Entscheid betrifft die Bewertung eines Aufsatzes im Rahmen der Aufnahmeprüfung ans Langzeitgymnasium. (Mein Kommentar folgt auf die Zusammenfassung des Urteils.)

Der Prüfling wählte für den Deutschaufsatz folgende Aufgabenstellung:

1    Der alte Hut
In einer verstaubten Schachtel auf dem Dachboden liegt ein alter Hut. Erzähle eine Geschichte zu diesem Hut. Aus dem Text soll hervorgehen, was für eine Bedeutung dieser Hut früher hatte und warum er Jahre später noch auf dem Dachboden aufbewahrt wird.

Im Urteil heißt es zu seinem Aufsatz und zur Bewertung:

[Der Schüler] verfasste dazu eine Geschichte in der Form eines Märchens. Die Geschichte handelt vom jungen Zauberer Merlin, dem eines Nachts die Grossmutter im Traum erscheint und ihn bittet, einen Hut unter einem Baum auszugraben und ihr zu bringen. Die Geschichte endet damit, dass Merlin den Hut der Grossmutter bringt und diese ihm erklärt, der Hut habe heilende Kräfte. Aus dem Text geht nicht hervor, dass der Hut Jahre später noch auf dem Dachboden aufbewahrt wird. Die [korrigierende Lehrperson] vergab dafür die Note 2,0.

Die Beschwerdeführenden rügen, die Beschwerdegegnerin habe dem Bewertungskriterium „den Text auf das Thema und die Aufgabenstellung ausrichten“ im Vergleich zu den weiteren Kriterien gemäss Anschlussprogramm ein zu starkes Gewicht beigemessen. Die Beschwerdegegnerin führte im Rekursverfahren hierzu aus, dass dieses Kriterium „von überragender Wichtigkeit“ bei der Benotung der Aufsätze sei. Werde dieses schlecht oder nicht erfüllt, verlören sämtliche anderen Kriterien „massiv an Gewicht“. Der Aufsatz von C verletze dieses zentrale Kriterium klar, weil in seinem Text sowohl die verstaubte Schachtel als auch der Dachboden und also auch eine logische Begründung dafür fehlten, warum der Hut sich noch Jahre später auf dem Dachboden befinde. Damit liege auch nur eine Zeitebene vor, weshalb sich nicht prüfen lasse, ob C die beiden Zeitebenen auseinanderhalten könne. C habe „den an ihn gestellten Auftrag in so hohem Masse nicht erfüllt, dass sein Werk sozusagen (zumindest teilweise) aus dem Kriterienraster hinausfällt“. Die Deutschlehrperson führt in ihrer Stellungnahme zum Aufsatz von C aus, es komme in diesem Text weder eine Schachtel noch der Dachboden vor; es werde „einfach ein Märchen erzählt, das überhaupt gar nichts mit der Aufgabenstellung zu tun hat. Am Gymnasium geht es nicht so sehr darum, Geschichten erzählen zu können, sondern Aufgabenstellungen zu erfassen und umzusetzen. Dieser Aufsatz ist einfach eine ins Blaue erzählte Geschichte, die in keiner Weise mit der Aufgabenstellung irgendetwas gemeinsam hat. Das Thema wurde bewusst so gestellt, dass eben kein Märchen erzählt werden sollte, und wenn, dann müsste man den Hut auf dem Dachboden entsprechend begründen. […] Notenabzug gibt es jeweils, wenn man die Aufgabenstellung nicht genau verstanden hat, wenn man vom Thema abgewichen ist oder in eine falsche Richtung läuft. Dabei muss jedoch das Grundthema wenigstens ansatzweise erfasst werden. Dieser Text jedoch ist ein reiner Phantasietext und das einzige, das berücksichtigt wurde, war der Titel.“

Im so genannten Anschlussprogramm werden die für die Prüfung relevanten Kompetenzen aufgelistet:

1. Verfassen eines Textes Die Kandidatinnen und Kandidaten können Erlebtes, Beobachtetes oder Erfundenes in einem Text niederschreiben. […]

Das Gericht hat einerseits festgestellt, dass der Aufsatz Bezüge zur Aufgabenstellung aufweist, andererseits bezweifelt, ob ein Kriterium für die Bewertung in diesem Ausmaß ausschlaggebend sein dürfe:

Die Herangehensweise von C mag etwas unkonventionell gewesen sein und deshalb erheblich von derjenigen der anderen Kandidierenden abweichen; daraus lässt sich indes nicht schliessen, er habe die Aufgabenstellung vollständig missachtet. Auch wenn C von der Aufgabenstellung abwich, ist der Vorwurf, er habe das Aufsatzthema vollständig verfehlt, demnach nicht haltbar und damit willkürlich. Die Benotung des Aufsatzes erweist sich schon deshalb als rechtswidrig. Im Übrigen hält auch die Beschwerdegegnerin fest, C habe die weiteren Bewertungskriterien „zu einem hohen Grad erfüllt“.

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Dazu einige Bemerkungen ohne bestimmte Reihenfolge:

  1. Die Grundkompetenzen im Lehrplan 21 erwähnen für diese Stufe (6. Klasse Primarschule, 8. Klasse nach Zählung LP21) explizit: »Die Produktionssituation und die verschiedenen Anweisungen werden in einer klaren und genauen Sprache präsentiert, es sind alle Elemente der zu erfüllenden Aufgabe enthalten. Die Anweisungen können Schritt für Schritt den zu befolgenden Weg angeben, um den Text zu schreiben; sie beschreiben die Kommunikationssituation, den Kontext und die Funktion des Textes, den Zweck und die Adressaten sowie die zu beachtenden Schreibkonventionen.« (S. 19) Wenn nun also »das Thema bewusst so gestellt [wurde], dass eben kein Märchen erzählt werden sollte«, wie die betroffene Lehrkraft angab, dann müsste das in der Aufgabenstellung deutlich zum Ausdruck kommen. »Erzähle eine Geschichte zu diesem Hut« reicht als Anweisung nicht aus, wenn entsprechende Erwartungen die Beurteilung beeinflussen.
    Es ist also zu fragen, ob solche Aufgabenstellungen geeignet sind, um eine valide Prüfung durchzuführen.
  2. Gerade aus solchen Gründen ist es zu begrüßen, dass solche Beschwerden geführt werden. Schulische Beurteilungen sind oft mit gravierenden Konsequenzen für Schülerinnen, Schüler und ihre Eltern verbunden – gerade deswegen müssen sie sich an rechtliche Vorgaben halten und auch juristischer Überprüfung standhalten, wie auch Geschäftsführer des LCH, Beat Zemp, dem Blick gesagt hat.
  3. Der Prüfungsaufsatz muss als Beurteilungsform entscheidende schreibdidaktische Einsichten in Bezug auf die Prozesshaftigkeit der Textproduktion ausblenden. Ob z.B. »Gedanken und Sätze klar« verknüpft sind, lässt sich oft erst durch Feedback erkennen, auch die formale Korrektheit eines Textes bedarf des Beizugs von entsprechenden Werkzeugen oder Rückmeldungen. Eine isolierte Textproduktion an einem Tag weder Lernfähigkeit noch relevante Schreibkompetenzen abbilden. Das Statement der Bildungsdirektorin Silvia Steiner zum Fall macht entsprechend rein quantitative Aussagen und keine didaktischen:

    Auf rund 7100 Prüflinge pro Jahr kommen etwa 40 Rekurse. Gemessen an den Negativ-Bescheiden entspreche das einer Anfechtungsquote von rund 1 Prozent, und davon würden ein bis zwei Fälle gut geheissen, schreibt Steiner. «Diese Zahlen zeigen mir, dass die Gymiprüfung im Kanton Zürich gut funktioniert, gerecht verläuft und breit akzeptiert ist.»

  4. Der Fall ist denkbar schlecht geeignet, um Lehrkräften einen Vorwurf zu machen. Das Problem ist systemisch: Die Gymiprüfung an sich ist genau so wie die Probezeit als Selektionsmechanismus problematisch. Die Schulen und Lehrkräfte müssen mitspielen, weil zu große Klassen mehr Aufwand bedeuten und Selektionsquoten vorgegeben werden. Entsprechend entsteht ein Druck zu schlechten Bewertungen, die aber – das zeigt der Fall – oft wenig Gehalt haben. Systeme, die auf Empfehlungen der Primarlehrkräften in Absprache mit den Eltern beruhten oder längerfristige Arbeit an Portfolios beurteilten, wären wesentlich präziser in der Beurteilung der Lernfähigkeit der Schülerinnen und Schüler. So misst die Prüfung lediglich, wie gut Lernende in einem fixen Setting Aufträge abarbeiten können – was einer modernen Idee von Lernen diametral widerspricht, stellt sie doch Kommunikation und Kreativität in den Vordergrund.
  5. Der Schaden fügt das System den Kindern zu: Man stelle sich den Schüler vor, der eine sprachlich offenbar saubere Merlin-Geschichte geschrieben hat und dafür die Note 2 bekommt. Diese Note bedeutet komplettes Versagen, sie sagt dem Schüler, seine sprachliche Arbeit habe keinen Wert im System Schule. Der Schüler ist nicht allein – der Fall macht ihn nur sichtbar. Wie kann man ein System verteidigen, welches das Selbstvertrauen vieler Kinder beschädigt und ihnen Frustrationen zumutet, die sie nicht verstehen können?