Die Fiktion des Lesens – Was tun, wenn Jugendliche keine Bücher lesen?

Eine meiner Klassen hat momentan die Aufgabe, in Gruppen eine Gottfried-Keller-Novelle zu diskutieren und dazu eine Schulstunde zu gestalten. Zur Vorbereitung haben wir den Pankraz gemeinsam gelesen und diskutiert – z.B. auch in Bezug auf Postkolonialismus – und die aktuelle Ausstellung im Strauhof zu Gottfried Keller im Rahmen eines Workshops besucht.

Letzte Woche habe die Gruppen bei ihrer Arbeit betreut und begleitet. Die erste Gruppe hat sich darüber beklagt, sie sei bei der Lektüre oder beim Hören des Audiotextes ständig eingeschlafen, deshalb müssten sie ihre Novelle erst noch fertig lesen – obwohl dafür bereits viel Zeit zur Verfügung stand. Die zweite Gruppe hat mich gefragt, wie sie denn ein Gespräch mit der Klasse führen könne, wenn doch nicht alle den Text kennen würden. Meine Antwort: Auf etwas Bezug nehmen, was alle kennen, z.B. auf den Pankraz. »Denken Sie wirklich, den haben alle gelesen?«, fragte die Schülerin ungläubig zurück.

Am Abend habe ich dann den Artikel »Die Deutschstunde« im NZZ Folio gelesen (evtl. Paywall, Privatkopie gerne per Mail). Patric Marino besucht eine Gymnasialklasse und fragt sie über ihre Lektüregewohnheiten aus. Drei Zitate:

Neben Goethe haben Sie im Deutschunterricht Schiller, Büchner, Brecht oder Kafka behandelt. Hand aufs Herz: Wer hat jede dieser 2000 Seiten gelesen? Drei von elf Schülern strecken auf. […]

Carla: Häufig lese ich zuerst eine Zusammenfassung und überfliege den Text, um darin das Wichtigste zu finden. Wenn ich gar keine Zeit habe, lese ich nur die Zusammenfassung und hoffe, dass sie stimmt.
Alba: Wenn ich merke, das Buch interessiert mich nicht und es gibt keine Prüfung dazu, dann lese ich es nicht fertig.

Carla: Früher habe ich viel mehr gelesen. Jetzt eigentlich nur noch, wenn ich krank bin oder Ferien habe. Das Problem ist, dass man in der Schule lesen muss. In diesen vier Jahren hatten wir nicht ein Quartal, wo wir kein Buch lesen mussten.

Am nächsten Tag habe ich dann mit der Keller-Klasse länger über die Frage gesprochen, ob die Jugendlichen überhaupt lesen, wie sie lesen. Die wesentlichen Punkte – gültig für eine Schweizer Gymnasialklasse mit einem nicht-sprachlichen Profil:

  1. Hausaufgaben werden nach Priorität erledigt. Die zur Verfügung stehende Zeit wird primär für die Prüfungsvorbereitung genutzt.
  2. Ist Lektüre für die Prüfungsvorbereitung entscheidend, wird sie eher bewältigt, als wenn das nicht der Fall ist.
  3. Schulisches Lesen hat privates Lesen praktisch vollständig verdrängt.
  4. Lektürevermeidungsstrategien werden von allen eingesetzt.
  5. Klassiker sind sperrig – sowohl sprachlich als auch inhaltlich. Texte, welche Jugendliche etwas angehen, werden eher gelesen.

Daran anschließend, stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist davon auszugehen, dass Klassen als Hausaufgaben Lektürearbeit leisten. Als ich an einem Text zu den Sommer–Playmobil-Videos gearbeitet habe, hat mir eine Deutschdidaktik-Professorin geschrieben:

[Ihre Einsicht], Schüler substituieren die  Primärtextlektüre durch alle möglichen Kurzfassungen) ist aus Sicht eines Praktikers
richtig und  auch nicht neu. In meiner Jugend schrieben die Schülerinnen und Schüler aus »Kindlers Literaturlexikon« ab! Diesen Aspekt würden wir für einen
Text jedoch schlicht ausklammern. Zum einen wissen Lehrkräfte darum und haben im Idealfall Reaktionsroutinen. Und zum anderen darf [man] durchaus idealistisch-konzeptionell (immer noch) davon ausgehen, dass Unterricht nicht prioritär zur Lektürevermeidung  anregen soll, sondern unterschiedliche Materialien im unterrichtlichen Kontext nutzt.

Und Sommer selbst hat auf meinen Text mit dem Hinweis reagiert, seine Anspielungen auf Lesevermeidung seien ironisch zu verstehen, sein Anliegen sei es, zur Lektüre anzuregen.

Während also Schülerinnen und Schüler in der Realität Lektüre aus verständlichen Gründen vermeiden, gehen Lehrende (auch aus verständlichen Gründen) davon aus, sie würden das nicht tun. Das ist wohl schon länger der Fall.

Die Frage stellt sich, ob das für einen sinnvollen Unterricht eine konstruktive Annahme ist. Was wäre, wenn wir nicht annehmen würden, dass Schülerinnen und Schüler als Hausaufgabe lesen? Folgende Konsequenzen scheinen mir denkbar, wenn wir auf diese Annahme verzichten:

  1. Wir lesen kürzere Texte (implizit tun das viele Deutschlehrkräfte bereits).
  2. Die Schülerinnen und Schüler lesen nicht zuhause.
  3. Wir setzen Druckmittel ein, damit die Lektüre zwingend nötig ist (z.B. Prüfungen).
  4. Wir finden gute Methoden, die zu einer intensiven Lektüre einladen (Brezellesen, insistieren mit Hilfestellungen).
  5. Wir arbeiten mit Texten, für die keine Lektürevermeidungsmaterialien zur Verfügung stehen, also mit neueren Texten oder solchen, die nicht zum (impliziten) Kanon gehören.
  6. Wir fokussieren die Lektüre und lassen nicht parallel in mehreren Sprachen literarische Texte lesen.
  7. Wir arbeiten mit Individualisierung und Gamifizierung, wie das Robin Fürst vorgeschlagen hat.

Das Problem zeigt exemplarisch auf, dass eine Mischung aus sinnloser Prüfungskultur (Noten sind nicht lernwirksam) und falsch verstandenen Hausaufgaben (Hausaufgaben verstärken den Einfluss der Familie auf den Schulerfolg) zu Effekten führen, die nicht leicht aufzuheben sind.

Die nachhaltige Lösung wäre, Schule als Lernumgebung zu designen. Wenn Literatur einen wichtigen Stellenwert hat, braucht es während Wochen einen Lektüretag: Am Morgen lesen die Schülerinnen und Schüler, am Nachmittag verarbeiten sie das Gelesene in Diskussion, beim Verfassen eigener Texte etc.

Zusatz März 2021: Dieses Methodenblatt beschreibt ebenfalls Zugänge zum Problem.