Textsortenmerkmale im Deutschunterricht – eine Kritik

Was sind die Merkmale einer Kurzgeschichte, einer Glosse, einer Novelle, einer literarischen Erörterung? Was sich nach einer sinnvollen Frage für den Deutschunterricht anhört, ist ein Minenfeld.

In einem Beitrag zur Frage, was Deutschunterricht 2020 leisten soll, schlagen Frey, Baumgartner und Pfister vor, er solle zum »Verstehen von geschriebenen Texten und mündlichen Beiträgen« und zur »Fähigkeit, sich in verschiedenen Situationen […] adäquat ausdrücken zu können« beitragen. Gehen wir von dieser Bestimmung der wesentlichen Ziele des Deutschunterrichts aus, dann können wir uns fragen, ob Textsortenwissen, das aus Merkmalslisten besteht, dabei hilft, diese Kompetenzen aufzubauen.

Betrachten wir dazu ein Beispiel aus deutsch.kompetent (2. Auflage Klett 2009, Einecke/Nutz, S. 360):

Die Darstellung sieht sehr prozessorientiert aus – doch auf der Seite 361 steht folgender Auftrag:

Lesen Sie den Schülertext [Text hier nicht abgebildet, PW] und erläutern Sie daran Merkmale des Essays.

Welche Merkmale könnten das sein? Die abgebildete »Kompetenzbox« enthält die folgenden:

  1. Thema aus Kultur, Politik und Gesellschaft
  2. freie und argumentierende Auseinandersetzung (Offenheit in Inhalt und Form)
  3. sprachliche Originalität
  4. gedankliche Authentizität
  5. eigene Erfahrungen und Wertungen
  6. individuelle Tonlage
  7. These als Kern des Textes
  8. provokanter Einstieg
  9. Zuspitzungen, Ironie
  10. Anschaulichkeit, Bildhaftigkeit

Diese Merkmale sind – wie fast alle Merkmalslisten, die im Deutschunterricht verwendet werden –, entweder irreführend oder schlicht falsch. Das Thema eines Essays kann ein wissenschaftliches, ein philosophisches, ein psychologisches sein. Ein Essay kann sprachlich konventionell abgefasst sein, keinerlei eigene Erfahrungen oder Wertungen einbringen. Essays können ohne These und ohne provokante Einsteige auskommen. »Gedankliche Authentizität« verstehe ich als Konzept nicht einmal: Meint das, dass das Geschrieben wirklich gedacht wurde?

Was genau ist ein Essay? Nimmt man diese Frage philosophisch oder literaturwissenschaftlich ernst, merkt man, wie vertrackt sie ist. Die Form des Essays gibt es in unterschiedlichen historischen, theoretischen und praktischen Ausprägungen. In deutsch.komptent wird das nicht sichtbar, das Thema wird didaktisch so reduziert, dass sein Kern verloren geht. Es gibt Gründe, weshalb tausende von Seiten über Essays geschrieben worden sind.

Dasselbe Problem zeigt auch ein zweites Beispiel, es stammt aus Texte, Themen und Strukturen (NRW, 1. Auflage Cornelsen 2014, Schurf/Wagener):

Während das Merkmal »Prosa« mehr oder weniger treffend ist (vgl. »Versnovellen«), ist es auch nichtssagend. Eine Novelle ist eine Erzählung – die aber nicht kürzer als ein Roman sein muss. Es gibt Romane, die kürzer als bestimmte Novellen sind. Vom Rest bleibt »dramatisch« und »straff« sowie sehr viele kann-Formulierungen.

Hilft es nun Schülerinnen und Schülern, wenn sie Texte mit Merkmalslisten abgleichen oder sie basierend auf solchen Listen verfassen? Erkennen sie, dass die Taube bei Patrick Süskind symbolischen Gehalt hat, weil sie wissen, was ein Dingsymbol ist? Können Sie einen besseren Essay schreiben, weil sie wissen, das eine »individuelle Tonlage« ein Merkmal von Essays sein könnte?

Ich zweifle daran. Betrachten wir das folgende Kompetenzmodell von Becker-Mrotzek/Schindler (2007, S. 24). Die Merkmale kommen allenfalls in der Kategorie der »Textmuster« vor. Das ist eine viel bessere Begrifflichkeit, weil sie aufzeigt, dass ganz unterschiedliche Ebenen eines Textes zusammenspielen. Ein Text, der mit Fachvokabular arbeitet, wird selten eine subjektive Syntax oder Tonalität verwenden; ein argumentativer Text verwendet kausale Nebensätze etc.

Was heißt das jetzt praktisch?

  1. Merkmale von Texten induktiv herausarbeiten (historisch kontextualisiert, im Vergleich etc.).
  2. Von Textmustern ausgehen, nicht von stabilen Textsorten.
  3. Kritisch reflektieren, was eine Textsorte überhaupt meint.
  4. Schreibprozesse so gestalten, dass wirksame Texte entstehen und nicht Merkmale abgearbeitet werden.