Rückblick 18. Oktober

MF

In der heutigen Seminarsitzung haben wir uns einerseits über unsere Erfahrungen mit der Bux-App ausgetauscht, andererseits haben wir die Kanon-Frage besprochen.

Aus der Besprechung über die Erfahrungen mit der Bux-App nehme ich insbesondere die «1-2-4-all»-Methode mit auf den Weg. Diese ist ein Beispiel einer «Liberating Structure» (Lipmanowicz/McCandless), welche zum Ziel hat, dass so viele Leute wie möglich sowohl handeln als auch den Inhalt kontrollieren können. Dem «1-2-4-all»-Schema folgend, war in einem ersten Schritt jede*r einzelne*r aufgefordert, sich eine Minute lang mit der folgenden Frage zu befassen: «Woran erinnert ihr euch?». Dies half dabei, die Erinnerungen zu den Erfahrungen mit der Bux-App aufzufrischen, welche wir am 27. September im Rahmen eines Stadtrundgangs mit der App gesammelt hatten. In einem zweiten Schritt tauschten wir uns zwei Minuten lang zu zweit über unsere Antworten aus. In einem dritten Schritt beantworteten wir zu viert vier Minuten lang die Frage, wo wir Potential für den Unterricht sähen. Ausserdem sollten wir eine Unterrichtsidee präsentieren. In diesem «1-2-4-all» kam ich zum Schluss, dass diese Liberating Structure eine sehr wertvolle Unterrichtsmethode sein kann, allerdings müsste man je nach Fragestellung(en) mehrere Durchgänge einplanen, da aufgrund des Zeitmangels die Gefahr besteht, dass man nicht alles zur Sprache bringen kann, was man eigentlich beisteuern möchte.

In einer Plenumsdiskussion haben wir anschliessend unsere Unterrichtsideen zu den Stadtrundgängen mit der Bux-App geteilt. Dabei gelangten wir zu den folgenden Ergebnissen:

Selbst habe ich mit einer Klasse noch nie einen Bux-Rundgang ausprobiert, allerdings hat sich für mich in meinem Unterricht eine Mischung aus den Punkten 5 und 6 als ergiebig erwiesen. So habe ich einen eigenen Rundgang zu Gottfried Keller erstellt, welcher mich mit meiner Klasse auf Kellers Spuren in die Zürcher Altstadt führte. Dabei haben wir in der Altstadt Orte besichtigt, welche wichtige Stationen in Kellers Leben darstellten (bei der Auswahl habe ich mich beispielsweise hier und hier inspirieren lassen). Beim jeweiligen Ort hatte ich zur Ergänzung dazugehörige zentrale Textstellen sowie biografische Informationen griffbereit.

Doch die Bux-App hat nicht nur inspiriert; sie wurde von den Seminarsteilnehmenden auch kritisiert. Dabei wurden die folgenden Punkte angesprochen:

Mir fällt es zum jetzigen Zeitpunkt nicht leicht, ein abschliessendes Urteil über die Bux-App zu fällen. Lieber probiere ich zuvor noch weitere Bux-Stadtrundgänge aus, da ich davon überzeugt bin, dass jeder Rundgang ein Für und Wider hat.

Weiter haben wir uns in der Seminarsitzung mit der Kanon-Frage befasst. Bei der Kanon-Frage stehen die Kriterien im Vordergrund, anhand derer gewisse Werke in den Kanon eingehen. Mir scheint in diesem Zusammenhang folgende Passage aus dem auf heute gelesenen Handbuch-Eintrag von Elisabeth Stuck relevant: Laut Stuck geht es «[…] bei der Literaturauswahl […] nur vordergründig um intentionale Selektionsprozesse», da im «Hintergrund […] vorher Kanonisierungsprozesse abgelaufen» sind, «die nicht auf bewusstes Selegieren und mitnichten auf individuelle Entscheidungen zurückzuführen sind» (S. 188). Die eigene Literaturauswahl sowie die Kanonisierungsprozesse sind demnach von unbewussten Entscheidungen geprägt. Hierbei kann es sich beispielsweise um persönliche Lesebiografien oder um gesellschaftliche Strukturen handeln, wobei die Schule jeweils eine wichtige Rolle spielt.

Die Schule tradiert auch Vorstellungen, die uns heute eigentlich veraltet vorkommen. Isabelle Lehn schreibt etwa über deutsche Schulen, dass dort «Ignoranz gegenüber weiblicher Literatur […] über lange Jahre erlernt» worden sei; sie sei «das Ergebnis einer literarischen Sozialisation, die an deutschen Schulen fast ausschließlich über einen männlichen Kanon erfolgt» (Originalquelle hier). Doch auch an Schweizer Schulen ist der Kanon noch immer auf männliche Autoren ausgerichtet (nach einem Artikel der Republik). Zum Nachdenken angeregt hat mich hierbei, dass ein männlicher Kanon ja wiederum einen Zirkel kreiert, der schwierig zu brechen ist. Wie schaffe ich es also, im Literaturunterricht mehr Platz für Autorinnen zu schaffen? Muss ich deshalb künftig bewusst darauf verzichten, mit meinen Klassen Werke bedeutender männlicher Autoren zu lesen?

Meine Antwort: Ich würde bei der Literaturauswahl nicht zwingend nach Geschlecht entscheiden, sondern mir vielmehr bei jedem Werk die hinter einer Kanonisierung stehenden Gründe überlegen. Laut Stuck hat der Kanon drei Funktionen (vgl. S. 188), bei deren Analyse man sich laut Philippe Wampfler an drei Fragen orientieren kann:

Diese Dreifaltigkeit definiert den Kanon. Deshalb werde ich es mir künftig hinter die Ohren schreiben, meine Literaturauswahl im Unterricht anhand dieser drei Dimensionen zu analysieren. Denn selbst wenn Deutschlehrpersonen in der Schweiz über eine grosse Lehrfreiheit verfügen, treibt uns in gewissen Situationen eine Rechtfertigungsnot um. Besonders bei den Vorbereitungen auf die Maturprüfungen müssen wir damit rechnen, dass unsere Kanon-Liste nicht nur unseren eigenen Erwartungen, sondern ebenfalls den Erwartungen anderer Leute, beispielsweise derjenigen der Expert*innen, gerecht werden muss.

JG

Thema

Die Sitzung konzentrierte sich auf zwei Themenschwerpunkte. Während sich die erste Lektion der Auswertung des Stadtrundgangs mit der Bux-App widmete, konzentrierte sich die folgende auf die Kanon-Diskussion mit Fokussierung auf die im Artikel von Stuck erwähnten drei Funktionen eines schulischen Lektürekanons: die programmatische, die legitimatorische und die praktische Funktion.

 

Exkurs: Liberating Structures

Um in die Diskussion der Anwendbarkeit der Bux-App im schulischen Kontext einzusteigen, erprobten wir als Studierende eine Methode, die im Schulzimmer die Aktivierung der einzelnen SuS fördert. Das Konzept „Liberating Structures“ stammt ursprünglich aus der Unternehmenskommunikation und postuliert, dass es im Feld Gruppenkommunikation zwei ‚Achsen‘ zu berücksichtigen gibt: einerseits sind dies die Personen(gruppen), die den Gesprächsinhalt kontrollieren und andererseits die Personen(gruppen), die aktiv handeln, resp. in unserem Fall aktiv an der Diskussion teilnehmen. Um den Idealfall – möglichst viele Leute kontrollieren die Diskussion und möglichst viele handeln, resp. sprechen gleichzeitig – zu erreichen, erweist sich die Methode „Think-Pair-(Square)-Share“ als ein effizientes Werkzeug. Dabei wird eine Aufgabe zur Erarbeitung, Durchdringung oder Wiederholung von Lernstoff gestellt, die SuS lösen sie zuerst individuell für sich, in Folge besprechen sie sich zwei Minuten mit einem*er Partner*in, dann vier Minuten zu viert, um schliesslich im Plenum zu einer Konklusion zu kommen.

In unserem Fall wurde die Methode angewandt, um zusammen unsere Erfahrungen mit der Bux-App und deren Potential für den Unterricht diskutieren und daraus konkrete Unterrichtsideen abzuleiten.

 

Feedback Bux-App

Die Rückmeldungen zu den Stadtrundgängen waren, gelinde gesagt, eher durchwachsen. Bevor auf die Hauptkritikpunkte eingegangen wird, sollen doch einige positive Aspekte und abgeleitete Unterrichtsideen hervorgehoben werden.

Grundsätzlich waren sich die Kursteilnehmer einig, dass ein Stadtrundgang mit der Bux-App tendenziell eher nach der Lektüre und der Beschäftigung mit der Biografie und ggf. der entsprechenden Epoche sinnvoll ist, sozusagen als Abrundung einer Unterrichtseinheit und als Horizonterweiterung. Unter anderem wurde es als plausibler erachtet, die App für auswärtige SuS in eine Exkursion oder Studienreise zu integrieren, als ortsansässigen Klassen anzubieten. Es wurden des Weiteren Vorschläge angebracht, eine Stadtführung ohne App, d.h. mit einem*r Experten*in, durchzuführen und sozusagen die mediale Aufarbeitung wieder rückgängig zu machen. Es wurde auch die kritische Frage gestellt, ob es denn überhaupt möglich sei, mit einer ganzen Klasse einen solchen Stadtrundgang durchzuführen. Als Lösung könnte man sich überlegen, eine Auswahl der Rundgänge für verschiedene Gruppen und Altersstufen anzubieten. Die Rundgänge könnten schliesslich die SuS auch dazu anregen, eigene Lernprodukte zu erstellen oder man könnte die Stadtrundgänge (oder nur Teile davon) als (fakultative) Hausaufgaben anbieten.

Wie schon bereits angetönt, überwog jedoch mehr die negative als die konstruktive Kritik an der App. Die Mehrheit der ‚Probanden‘ empfanden die App was sowohl die mediale Aufarbeitung als auch das Storytelling angeht als langweilig. Es kam auch Kritik an der ‚Benutzerfreundlichkeit‘ auf. Ohne Kopfhörer (und auch mit) war es schwierig, umringt vom Strassenlärm, den Erläuterungen der Vortragenden zu folgen. Ausserdem spielte die App manchmal Sequenzen ab bevor man den angezeigten Standort überhaupt erreicht hatte. Dort angekommen fehlte oft die Interaktion mit der realen Umgebung. Es gab nichts zu entdecken oder selbst zu erarbeiten (i.S. eines Foxtrails oder Escape Room) In dem Zusammenhang wurde der Begriff der „Affordanz“, dem Aufforderungscharakter von Medien genannt, der in diesem Fall nicht gegeben war. Oftmals wurde der Inhalt der Rundgänge auch als wenig ergiebig erachtet oder liess Fragen bezüglich dessen Stellenwerts oder der Auswahl der Schauspieler*innen (Stichwort fragwürdiger Auftritt eines Rappers) aufkommen. Auch die Präsentationsform regte selten zu Eigenaktivität an. Nicht selten wurde ein Expertenvortrag gehalten oder Texte vorgelesen, wobei die berechtigte Frage gestellt werden kann, wie sinnvoll das Ganze ist, resp. ob die Digitalisierung nun wirklich eine funktionale Verbesserung oder Modifikation herbeiführt zu vergleichbaren analogen Angeboten (vgl. Diagramm s.u.).

Der m.E. grösste Kritikpunkt ist jedoch, dass die SuS mit der App nie angehalten werden, zusammenzuarbeiten, sondern eher noch mehr isoliert werden, da jeder für sich (angenommen jeder hat sein eigenes Gerät) den Anweisungen der App folgt. Aufgrund der ausbleibenden Interaktion an den Standorten (in Form von QR-Codes, Plaketten zum Lesen, Aufgaben zum Lösen) sah ich auch nicht ein, wieso die SuS nicht gerade so gut im Schulzimmer die ‚Tour‘machen könnten – auf akustischer Ebene wäre dabei zumindest schon ein Fortschritt erzielt. Aber nichtsdestotrotz bleibt die Frage, inwiefern die SuS dabei kognitiv aktiviert werden. Was beim Rundgang meiner Gruppe (Anna Cuneo) auch erschwerend dazu kam, war die Tatsache, dass die Ebenen von Schauspiel, Fiktion und Biografie sehr schwer zu trennen waren und zu Verwirrung führten. Aus literaturperspektivischer Sicht ist auch fragwürdig, inwiefern eine zu Enge Rückführung des Werks auf die Biografie der Autorin gerechtfertigt werden kann.

Summa summarum lässt sich sagen, dass die App einige gute Ansätze erkennen liess, mehrere Punkte jedoch überdacht werden müssten, sowohl in medialer, technischer als auch inhaltlicher Hinsicht um echtes Interesse bei den SuS wecken zu können. Bis dahin vermögen die Rundgänge wohl eher Expertengruppen des bestimmten Themas wirklich zu fesseln.

 

Quelle: https://www.l-mobile.com/infothekbeitrag/das-samr-modell-der-schluessel-zur-einfuehrung-digitaler-bildung/

 

Kanondiskussion

In der zweiten Hälfte der Sitzung beschäftigten wir uns mit der Kanondiskussion. In Anlehnung an den Artikel von Stuck kann man von „Kanonizität sprechen, ‚wenn Texte und Autoren über einen langen Zeitraum in der allgemeinen Öffentlichkeit Beachtung‘ finden“ (Stuck, 188a). Diese Definition betrifft jedoch ausschliesslich den „repräsentiereden Aspekt der programmatischen Funktion eines schulischen Lektürekanons“ (ebd.) Diese Funktion wurde zusammen mit der der legitimatorischen und der praktischen genauer beleuchtet. Die legitimatorische Funktion eines Kanons bezeichnet die öffentliche Rechtfertigung der Lektüreauswahl, dessen praktische Funktion zielt auf die Frage, inwiefern eine Lektüre sich für den Leseunterricht eignet und wie sinnvoll deren Einsatz im Unterricht ist, um die Lesefähigkeit der SuS weiterzuentwickeln. Die praktische Funktion betrifft also die Ebene der Kompetenzen, die legitimatorische Funktion, diejenige der gesellschaftlichen Erwartungen, die es zu erfüllen gibt, die programmatische die Ebene der Kultur.

In der Diskussion wurde auch kritisch bemerkt, dass dem Kanonkonstrukt eine gewisse zirkuläre Bestätigung anhaftet. Die eigene Lesebiographie einer Lehrperson beeinflusst – bewusst oder unbewusst – meist auch deren Lektüreauswahl für den eigenen Unterricht. Oft wählt diese nämlich auch diese Bücher als Lektüre für die eigene Klasse, die in der eigenen Schulzeit gelesen wurden. Die Frage, ob man als LP nun nur Lektüren im eigenen Unterricht behandeln soll, die man in der eigenen Schulzeit nicht gelesen hat, wurde in den Raum gestellt und soll an dieser Stelle offen bleiben. Aber es kann durchaus festgehalten werden, dass es sich bei der Literaturauswahl meist nur vordergründig um intentionale Selektionsprozesse handelt.

Im Rahmen eines kurzen Exkurses wurde deutlich, dass in Deutschland der Kanon, v.a. im Hinblick auf die Abiturprüfung, sehr stärker durch die öffentliche Hand gelenkt ist als in der Schweiz. Während in Deutschland die Tradierwürdigkeit der Literatur staatlich extrem geregelt ist, geniessen wir als LP in der Schweiz die Freiheit, selbst unsere Lektürelisten für die Matur zusammenstellen zu können. Aber ganz frei in der Wahl sind die Lehrpersonen bei ihren Maturprüfungen dann doch nicht. Oft beeinflussen Vorgaben der Kantone, Absprachen in Fachschaften und die Erwartungen von Experten*innen unseren persönlichen Kanon, den wir de SuS zur Auswahl anbieten. Interessanterweise tragen auch die SuS selber zu einem grossen Teil zur Stabilität des Kanons bei, da sie oft Texte wählen, die sie schon von Geschwistern oder Kameraden*innen kennen oder sie wählen aufgrund der Kriterien der Zugänglichkeit zu Sekundärliteratur oder dem Angebot von Schuleditionen mit Lektüreschlüsseln ihre Werke, wie das z.B. bei Reclams Universalbibliothek gegeben ist.

 

Jungendliteratur bzw. „Young Adult Fiction“ im gymnasialen Literaturunterricht

Abschliessend wurde die Eignung der Jugendliteratur (hier gemeint: Literatur mit jungen Erwachsenen als Protagonisten, z.B. Tschick von Wolfang Herrndorf) für den gymnasialen Literaturunterricht diskutiert. Befürwortende Argumente wären hier einerseits die Steigerung der intrinsischen Motivation und die Möglichkeit, subjektive Lektüreerfahrungen zu erlangen. Für junge SuS ist das Identifikationspotiential mit einem*er jungen Protagonisten*in der Gegenwart verständlicherweise eher gegeben als mit einem*er Vertreter*in älterer Generationen und vorhergehenden Jahrhunderten. Es wurde auch positiv bemerkt, dass mit der Beschäftigung mit Jugendliteratur eine Brücke zwischen schulischem Kontext und privatem Leben geschlagen werden kann, was die Einbindung dieser Art von Lektüre in den Unterricht legitimiert. Einige angehende Lehrpersonen in der Runde stellten sich jedoch die Frage, wie denn die Lektüre didaktisch aufzuarbeiten sei, wenn man nicht wie bzw. bei einer Novelle von C.F. Meyer, die Novellentheorie, der Literaturgeschichtliche Hintergrund o.Ä. thematisieren können.

Meines Erachtens eröffnet sich jedoch gerade durch Jugendliteratur die Chance, mit den SuS losgelöst von starren Strukturen, Neues zu entdecken und aktuelle Themen, die die Lebenswelt der SuS betreffen zu diskutieren. Schlussendlich braucht es wohl aber wie so oft die Mischung von Traditionellem und Neuem: Sowohl die Auseinandersetzung mit programmatischen Texten des Kanons, aber auch die Beschäftigung mit Neuentdeckungen der Gegenwarts- oder Jugendliteratur können die SuS ihren Lektürehorizont erweitern und beide können die praktische Funktion von eines Literaturkanons erfüllen, d.h. sich für den Unterricht eignen, wenn sie didaktisch richtig aufbereitet werden.