Der kompetente Umgang mit literarischen Texten lässt sich nicht auf andere Texte übertragen

Deutschlehrpersonen rechtfertigen einen Fokus auf die Arbeit mit literarischen Texten zuweilen mit einem Argument, das sich empirisch nicht stützen lässt. Das Argument lautet wie folgt:
»Die Kompetenzen, die beim Verstehen und Interpretieren literarischer Texte erworben werden, helfen Schüler*innen auch beim Umgang mit komplexen Alltags- und Sachtexten – da literarische Texte oft von hoher Komplexität sind.« 

Der Nachweis, dass dieses Argument nicht trägt, geht auf eine Auswertung von Pisa-Daten zurück, die sich bei Artelt und Schlagmüller (2004) findet. In der Auswertung der Daten der Pisa-Tests von 2000 unterscheiden die Forschenden die bei 15-Jährigen vorliegenden Kompetenzen im Umgang von kontinuierlichen Texten mit denen beim Verständnis von nichtkontinuierlichen Texten.

Während bei fortlaufend geschriebenen Texten zum Beispiel die Frage der Koharenz, der Propositionsdichte und des Gebrauchs von Metaphem und Analogien von großer Bedeutung ist, treten diese Merkmale bei nichtkontinuierlich geschriebenen Texten, die neben Textpassagen auch Bildverarbeitung beinhalten, vor allem bei Tabellen und schematischen Zeichnungen, aber auch bei Bildern und Karten, zu Gunsten anderer schwierigkeitsbestimmender Merkmale in den Hintergrund. Es ist daher anzunehmen, dass die Unterschiedlichkeit der Anforderungen sich auch in den unterschiedlichen Kompetenzdimensionen manifestiert – die Korrelation zwischen beiden Teilskalen also verhältnismäßig niedrig liegt. Dieses ist tatsächlich auch der Fall. Der kompetente Umgang mit ausschließlich fortlaufend geschriebenen Texten ist hinsichtlich der Anforderungen und der damit assoziierten Fähigkeit nicht mit dem kompetenten Umgang mit Aufgabenstellungen gleichzusetzen, die sich auf nichtkontinuierlich geschriebene Texte beziehen. Die Korrelation zwischen diesen beiden Teilkompetenzen liegt mit .70 in vergleichbarer Höhe wie der Zusammenhang zwischen der Lesekompetenz (Gesamtscore) und der naturwissenschaftlichen Grundbildung (0.71). (S. 176)

Diese Korrelation (0.70) zwischen der Kompetenz im Umgang mit kontinuierlichen und nichtkontinuierlichen Texten ist vergleichsweise hoch, wenn man die Kompetenz im Umgang mit literarischen Texten hinzuzieht – diese liegen sowohl hinsichtlich kontinuierlicher wie auch nichtkontinuierlicher Texte unter 0.6:

Die Forschenden schreiben als Kommentar dazu:

Der Vergleich macht deutlich, dass die Lesekompetenz bei literarischen Texten mit gutem Grund als separate Fähigkeit aufgefasst werden kann. Der Zusammenhang zwischen den Subskalen „literarische Texte“ und „nichtkontinuierliche Texte“ liegt numerisch – wenn auch nicht in jedem Fall signifikant – niedriger als die Interkorrelationen zwischen den drei in PISA untersuchten Kompetenzbereichen (Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen). Dieser Befund bestätigt sich auch bei einer Dimensionsprüfung im internationalen Vergleich. Keine der anderen Subskalen im Lesen weist ähnlich niedrige Zusammenhänge auf wie die Fähigkeit zum Umgang mit literarischen Texten.
Gerade der Vergleich mit den Zusammenhängen zwischen den drei in PISA untersuchten Hauptkompetenzbereichen (diese sind in Abb. 7.5 dunkelgrau dargestellt) macht deutlich, dass der kompetente Umgang mit literarischen Texten aös ein separater Teilaspekt der Lesekompetenz verstanden werden sollte. (S. 179)

Das Fazit von Artelt und Schlagmüller zeigt, dass literarisches Lernen und die damit verbundenen Kompetenzen nicht zu einer allgemeinen Verständnisfähigkeit im Umgang mit Texten führen, sondern auf den Bereich der Literatur beschränkt sind:

Der kompetente Umgang mit literarischen Texten scheint andere Lese- und Verstehensanforderungen zu beinhalten als der Umgang mit anderen kontinuierlich und nichtkontinuierlich geschriebenen Texten. Die relativ deutliche Abgrenzung zwischen der Teilkompetenz beim Umgang mit literarischen Texten und der bei kontinuierlich geschriebenen Texten zeigt sich auch im internationalen Vergleich. (S. 188)

Die Autor*innen beziehen sich auf Eggert (2002, Literarische Texte und ihre Anforderungen an die Lesekompetenz), um eine Erklärung für diese Einsichten zu finden:

Der Kernbereich gesellschaftlich prägnanter Literaturauffassungen konstituiert sich offenkundig über literarische Formen der Symbolik, der Andeutung von Mehrdeutigkeit (Konnotation) und der Verfremdung von Alltagssprache bzw. etablierter literarischer Formensprache. Auf diese Weise entsteht ein eigenes, abgegrenztes literarisches Territorium, in dessen Geltungsbereich andere ,Spielregeln‘ gelten als in der Pragmatik des Alltagshandelns (Autofunktionalität). Es müssen demnach ,Signale‘ am Text oder aus der Situation der Textpräsentation vom Leser so wahrgenommen werden, dass sie als literarische Texte im Sinne von Literatur als Kunst aufgefasst und gedeutet werden.“ (Eggert 2002, S. 187)

Etwas konkreter wird Rosebrock (S. 11), die darauf hinweist, dass literarische Texte andere Muster enthalten als viele Sachtexte – und Leser*innen entsprechend andere Erfahrungen und »mentale Schemata« benötigen, um sie verstehen zu können.

Narrative Texte […] folgen im Wesentlichen einem dominanten Muster, der sogenannten „story grammar“. Eine Erzählung besteht in dieser textstrukturellen Perspektive aus einleitenden Passagen, in denen über Ort, Zeit und Aktanten orientiert wird, sodann aus einer oder mehreren Episoden, die ihrerseits eröffnet, beschrieben, in eine Komplikation getrieben und wiederum aufgelöst werden, und schließlich aus einem Schluss, der häufig evaluierende Funktionen hat.
Sachtexte dagegen differieren im Blick auf die zugrundeliegenden Muster erheblich stärker untereinander […] Die Passung zwischen der Struktur des Textes und den diesbezüglichen Texterfahrungen bzw. mentalen Schemata der Leser(innen) ist neben den Inhalten und den kommunikativen Funktionen der dritte wesentliche Faktor bei der Didaktik von Texten.
Sollen Schüler*innen befähigt werden, kontinuierliche wie auch nichtkontinuierliche Sachtexte verstehen zu können, müssen sie auch solche lesen und bearbeiten. Die Verstehenskompetenzen im Umgang mit literarischen Texten lassen sich kaum auf andere Textformen übertragen.
Ergänzung und Erweiterung: LUK-Projekt
Das LUK-Projekt untersucht die hier erwähnten Fragestellungen genauer und differenzierter und beschreibt mit empirischen Daten eine »literarästhetische Urteilskompetenz«. Lesenswert dazu ist die Darstellung von Meier et al. (2017), auf die mich Christian Albrecht hingewiesen hat. Im da verwendeten Modell werden allgemeines Textverständnis (»expository reading comprehension«) und spezifisch literarische Kompetenzen unterschieden. Die literarischen Kompetenzen werden in drei Unterfertigkeiten gegliedert:
  1. Foregrounding, d.h. sprachliche Muster zu erkennen, bewusst wahrzunehmen und ihre Wirkung einschätzen zu können.
  2. Kenntnis von Fachbegriffen und Konzepten zur Beschreibung von Literatur
  3. Wahrnehmung von Emotionen, die im Text dargestellt werden (von Autor*innen intendiert werden).

Im Modell wird deutlich, dass diese Unterkompetenzen zusammenhängen: Die Förderung der Fähigkeiten, Foregrounding wahrzunehmen oder Fachbegriffe einzusetzen, führt dazu, dass literarisches Textverständnis insgesamt verbessert wird.

Wie dieses aber mit dem Verständnis von (nichtkontinuierlichen) Sachtexten im Sinne von Artelt und Schlagmüller zusammenhängt, bleibt offen. Die Perspektive des LUK-Projekts ist es, zu zeigen, dass literarische Kompetenzen (oder literaturästhetische Urteilsfähigkeit) eine eigene Domäne darstellen, die nicht mit allgemeiner Lesefähigkeit verbunden werden kann. Das gibt dem Literaturunterricht eine spezifische Berechtigung – nicht aber deshalb, weil er dabei hilft, domänenunabhängig besser lesen zu können. Guter Literaturunterricht ermöglicht literarisches Lernen. Frederking u.a. (2011) schreiben:

Um zu zeigen, dass literarästhetische Urteilskompetenz eine qualitativ andere Kompetenz darstellt als allgemeines Leseverstehen, wurde im Rahmen der Erhebungen zusammen mit der LUK-Leistung ein allgemeiner Lesetest durchgeführt. Ein Vergleich der Korrelationen zwischen LUK-Leistung und Lesetest ergab substanzielle Korrelationen in mittlerer Höhe in erwartbarem Umfang. Die Höhe der geteilten Varianz auf manifester Ebene (32%) spricht jedoch dafür, dass Lesekompetenz und literarästhetische Urteilskompetenz empirisch deutlich trennbar sind und verschiedene Konstrukte repräsentieren. Auf latenter Ebene korrelieren LUK und allgemeine Lesekompetenz […] und bestätigen damit die Befunde von ARTELT/SCHLAGMÜLLER.