Maturquote, Qualität und Standardisierung

Grafik: NZZ.

Grafik: NZZ/BfS. (Klicken zum Vergrößern)

Gestern hat die NZZ Ergebnisse einer neuen Studie des Bildungsökonomen Stefan Wolter publiziert. Die Studie wird voraussichtlich Ende 2016 publiziert – die Daten sind deshalb nicht einsehbar. Im Artikel macht Wolter mehrere Aussagen zum MAR-Abschluss, die teilweise Fragen aufwerfen.

  1. 54.3% der in einer Studie Befragten (n=6000) halten die Maturquote in ihrem Kanton für zu hoch. Informiert man sie über die tatsächliche Quote, so sind es nur noch 44.8% – doch deutlich weniger, als der Anteil, der die Quote für richtig oder zu tief hält (54.9%). Hier erstaunt der Spin von Wolter, der direkt in den Artikel einfließt: Während die Daten durchaus den Schluss zuließen, die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung halte die aktuellen Quoten für angemessen, suggeriert er, sie hielte sie für zu hoch.
  2.  86.6% der Befragten befürworten einheitliche Maturaprüfungen. Hier ließe sich auch fragen, inwiefern den Befragten klar ist, was Maturaprüfungen bedeuten und wo der Unterschied zwischen gleichwertigen und identischen Prüfungen liegt (beziehungsweise was die Konsequenzen eines Systemwechsels in Bezug auf Lehrfreiheit wären).
  3. Als weitere Forderung hält Wolter fest: »Wir sollten wegen der Qualität in Richtung Zentralmatura gehen«. »Wer das musische Profil wählt, kann selbst mit einer Note 6 in Mathematik weit vom Median entfernt sein. Für ein ETH-Studium würde es nicht reichen.«

Diese letzten Aussagen halte ich für besonders irritierend. Auf Nachfrage hat mich Stefan Wolter auf die Studien von Hendrik Jürges von der Universität Wuppertal verwiesen, der anhand von Pisa-Tests Effekte von zentralisierten Prüfungen in Deutschland untersucht hat. Im aktuellsten der Paper, auf die Wolter verweist, steht im Fazit (S. 14):

Our analysis shows that central exit exams are significantly related to better curricular knowledge. However, we found no significant effect on mathematical literacy – the type of mathematical knowledge that is regarded to be relevant in everyday situations. This paper thus qualifies earlier findings on the central exam effect in Germany in an important way: measured (incentive) effects of central exit examinations appear to be larger when outcome measures are more in line with what is actually tested in central exit examinations, i.e. the curriculum.

D.h. wenn Wissen standardisiert wird – wie z.B. bei den Basiskompetenzen im Fach Mathematik -, dann haben standardisierte Tests einen positiven Effekt auf die Unterrichtsqualität. Gerade für gymnasiales Lernen mit den beiden MAR-Bildungszielen, das sich einer Standardisierung entzieht, sind solche Aussagen allenfalls spekulativ.

Aus der Perspektive der Deutschdidaktik wirken solche bildungsökonomischen Forderungen sehr gefährlich: Die Qualität des gymnasialen Deutschunterrichts hängt stark von der Unterrichtskultur und damit auch der Lehrfreiheit ab. Hier wie in Deutschland und Österreich zentrale Vorgaben zu machen, entspricht sicher einem Bedürfnis der Bildungsverlage, die so entsprechende Inhalte aufbereiten und verkaufen können. Aber qualitative Vorzüge sind bei einem solchen Systemwechsel nicht in Sicht. Im Gegenteil: Ein standardisierter Deutschunterricht, wie ich ihn etwas von den International-Baccalaureate-Abschlussprüfungen kenne, führt zu logistischen Problemen (z.B. verzögerte Fremdkorrektur von Texten mit Punkterastern), die sich direkt auf die Motivation der Lernenden und Lehrenden niederschlagen und damit die Unterrichtsqualität senken.

Das Ergebnis, dass in der Bevölkerung höhere Maturaquoten wenig, zentrale Maturaprüfungen viel Zuspruch erhalten, bedeutet für mich, dass alle Akteure im gymnasialen Betrieb Vermittlungsarbeit leisten müssen. Die Schulen müssen sich öffnen und zeigen, was das Gymnasium an Bildungsarbeit leistet, die über standardisierte Ausbildungen hinausgeht. Das bedeutet kein Widerstand gegen die Sicherung von Basiskompetenzen (meine Meinung dazu steht hier), vielmehr eine klare Stellungnahme gegen weitergehende Bemühungen um Standardisierung und die kaum zu belegende Behauptung, damit sei mehr Qualität zu erreichen.