Schieberegler für den gymnasialen Deutschunterricht

Wenn ich mit Studieren im Fachdidaktik-Seminar arbeite, versuche ich von Beginn an deutlich zu machen, dass sie ihren eigenen Stil als Lehrperson suchen und finden sollten. Ich zeige ihnen, wie ich unterrichte – erwarte aber nicht, dass sie das kopieren oder als Ideal ansehen, sondern als eine Möglichkeit. Jede Lehrperson hat andere Stärken, diese sollten ihren Unterricht prägen.

Am Ende des letzten Fachdidaktik-Kurses (in den Menus links findet man die Links zu all meinen Modulen) habe ich der Lerngruppe diese Schieberegler-Darstellung vorgestellt. Sie ist so zu lesen: »So viel Wissenschaft wie nötig, so viel Didaktik wie möglich.«

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Nun gibt es berechtigte Einwände gegen diese Darstellung. Die Schieberegler, so eine Kritik, würden Gegensätze konstruieren, wo es keine gibt. Weshalb sollte Unterricht sich nicht gleichzeitig an Wissenschaft orientieren können und gleichzeitig didaktisch sorgfältig geplant sein? Im Folgenden eine ausführlichere Darstellung, die deutlich macht, was mit den Schiebereglern gemeint ist.

  1. Wissenschaft >-< Didaktik
    Wer sich mit den Gegenständen des Deutschunterrichts wissenschaftlich auseinandersetzt, tut das spezialisiert und nach langer Ausbildung. Ein Beispiel: Wie die Sprechinstanz in Gedichten heißt, ist in der Lyriktheorie Gegenstand einer Debatte. Wer hier den aktuellen Stand der Wissenschaft verstehen will, muss sich einlesen, muss Tagungen besuchen und mit Fachpersonen in einen Diskurs treten.
    Im Unterricht heißt die Sprechinstanz »lyrisches Ich«. Das ist wissenschaftlich nicht präzise, aber reicht aus, um den gröbsten Fehlschluss zu vermeiden, der darin besteht, anzunehmen, Gedichte würden von ihren Autor*innen gesprochen. Die Abkürzung ist deshalb legitim, weil sie es für Schüler*innen möglich macht, Lernfortschritte zu erzielen, Zusammenhänge besser zu verstehen. Wir brauchen im Deutschunterricht wissenschaftliche Erkenntnisse, aber nur so viele, dass gelingender Unterricht möglich ist. Schüler*innen sind keine Wissenschaftler*innen, auch Lehrpersonen sind keine. Wissenschaft ist eine wichtig Orientierung – aber sie ist weniger wichtig als die Orientierung am Lernen der Schüler*innen.
  2. Kanon >-< Aktualität
    Kanonische Literatur liefert Orientierungswissen, aber sehr beschränktes, eingeengtes. Viele Perspektiven fehlen, zudem hilft der Kanon nicht, aktuelle Debatten und Auseinandersetzung zu verstehen. Arbeitet der Deutschunterricht mit aktuellen Fragestellungen, können die Beschränkungen des Kanons überschritten werden.
  3. Noten >-< Lernen
    Die Notengebung beeinflusst das Handeln von Lehrpersonen stark. Das ist zu einem Teil gerechtfertigt: Noten sind bürokratisch wichtig, wenn hier etwas nicht stimmt, kann das zu Problemen für Lernende und Lehrende führen. Aber Noten erschweren das Lernen, Prüfungen sind eine Belastung. Deshalb: So wenig Energie wie möglich für Noten einsetzen. (Wer mehr darüber lesen möchte: beurteilung.ghost.io ist ein kostenloser Newsletter, den ich zum Thema verfasse.)
  4. Classroom-Management >-< Öffnung
    Unterricht muss nicht im Klassenzimmer stattfinden, er muss nicht frontal gelenkt werden. Gleichwohl gibt es Phasen, in denen das nicht anders möglich ist.
  5. professionell >-< persönlich
    Lehrpersonen müssen professionelle Standards einhalten. Sie agieren in einer Rolle, die ihnen bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen vorschreibt. Das ist die Pflicht. Die Kür: Trotzdem für Schüler*innen wie eine Person zu wirken, zu der eine Beziehung möglich ist. Die als Mensch Lernprozesse begleitet und nicht als Rolle. Die im Klassenzimmer nicht als Amtsperson agiert, sondern als Bezugsperson. Die Gefühle zeigt und wahrnimmt – obwohl sie Grenzen respektiert und Regeln durchsetzt, wenn sie für alle wichtig sind.