Zentrale Aufnahmeprüfung Kanton Zürich – ein Aktionsplan

Die zentrale Aufnahmeprüfung an die Gymnasien des Kantons Zürich sieht sich breiter Kritik ausgesetzt. Das zeigt sich etwa an der medialen Berichterstattung im Vorfeld: Dieses Jahr hat Das Magazin von den Nöten der Eltern berichtet; die NZZ hat nachgewiesen, dass die Prüfung wegen der intensiven Vorbereitung zu ungleichen Chancen führt, der Polit-Blog des Tages-Anzeigers hat den bildungspolitischen Sinn der Prüfung hinterfragt.

In dieser ganzen Diskussion trage ich drei Hüte: Ich habe Kinder an der Primarschule, korrigiere die Prüfung als Deutschlehrer an der Kantonsschule Enge und schätze als Fachdidaktiker die Prüfung aus der Sicht der Forschung ein. Aus allen Perspektiven trete ich dafür ein, Prüfungen und Noten im schulischen Lernen zu minimieren: Sie erschweren es, Lehrenden und Lernenden Lernprozesse in den Vordergrund zu rücken. Ausführlicher erklärt werden die Hintergründe in diesem Beitrag.

Auf Facebook und in meinem Blog habe ich bereits mehrmals kritische Beiträge zur Aufnahmeprüfung verfasst (1, 2, 3, 4). Im Folgenden möchte ich kurz aufzeigen, welche Schritt mir sinnvoll erscheinen, um die Situation zu verbessern. Man muss mir nicht bis zu Schritt 5. folgen – aber jeder Schritt scheint mir eine deutliche Verbesserung gegenüber dem Status Quo darzustellen. Klar ist: Einige Massnahmen kosten etwas. Aber so ist das oft, wenn man einen Zustand verbessern will. Zudem können Änderungen kurzfristig zu rechtlichen Schwierigkeiten führen – das aktuelle Verfahren ist darauf ausgerichtet, Rekurse zu minimieren (hier ein Beispiel für einen Rekurs).

  1. Aktionskomittee gründen.
    Die Frage ist eine bildungspolitische. Hier braucht es Druck – von Eltern, von Lehrerinnen und Lehrern, von Fachleuten, von Parteien. Zu viele Menschen verstecken sich hinter der Aussage, die Prüfung sei so »politisch gewollt«. Ein Komitee müsste zeigen: Nein, die Frage ist politisch zumindest umstritten, ob die Prüfung so vorgehen soll.
    Ich kann hier den Lead nicht übernehmen, arbeite aber gerne mit.
  2. Die Prüfung kompetenzbasiert gestalten. 
    Dieses Jahr ist es konsequent so, dass der Massstab für die Prüfung aufgrund der Ergebnisse so festgelegt wird, dass die vorgesehene Anzahl Schülerinnen und Schüler die Prüfung besteht.
    Korrektur 21. März 2018: Diese Passage ist nicht ganz korrekt. Die Prüfungsverantwortlichen erstellen einen Maßstab, den sie »an der Prüfung eichen«; ihn also an den Resultaten prüfen und ihn dann möglicherweise korrigieren. Die festgelegte Quote von 20% Gymnasiastinnen und Gymnasiasten hat aber darauf einen Einfluss.
    Hier muss ein Systemwechsel stattfinden: Die Prüfung muss so gestaltet sein, dass ein bestimmtes Kompetenzniveau festgelegt wird, das zum Besuch des Gymnasiums berechtigt.
    Gibt es eine Selektion, dann muss sich die Selektion auf das Können der Schülerinnen und Schüler beziehen, nicht auf ihren relativen Status in einer Gruppe. Es kann nicht sein, dass die Prüfung von Jahr zu Jahr unterschiedlich schwierig ist.
  3. Die Prüfung zeitgemäß gestalten.
    Hier konzentriere ich mich auf die Deutschprüfung: Sie besteht fürs Kurzzeitgymnasium darin, einen literarischen Text zu lesen (dicht bedruckte A4-Seite, aktuelles Beispiel) und dazu in 45 Minuten 16 Fragen mit mehreren Unteraufgaben zu Textverständnis und Grammatik beantworten. Danach schreiben die Kinder einen Aufsatz zu vier vorgegebenen Themen.
    Die Formulierung geschlossener, oft auch unklarer Fragen zu einem literarischen Text sowie die klassische Aufsatzlehre sind in der Deutschdidaktik seit Jahrzehnten überholt. Zudem sind diese Aufgaben der Grund, weshalb die Vorbereitungskurse so wichtig sind: Wer nicht versteht, wie die Prüfung aufgebaut ist, kann sie kaum bestehen.
    Zeitgemäß wäre es, eine materialgestützte Schreibaufgabe zu geben: Etwa einen Sachtext zu einem medizinischen, geografischen, politischen etc. Thema vorzugeben und eine Aufgabe zu geben, bei der dieser Text verwendet wird (zitiert, paraphrasiert, kritisiert). Hier muss hinreichend Zeit für Planung und Überarbeitung vorliegen. Eine solche Prüfung würde zeigen, wer einen Text versteht und einen sinnvollen Text schreiben kann.
    Selbstverständlich sind andere Formen denkbar – aber die aktuell verwendete Form bedarf einer deutschdidaktischen Prüfung.
  4. Die Prüfung abschaffen.
    Sogenanntes High-Stakes-Testing ist ebenfalls überholt. Was Schülerinnen und Schüler können, zeigt sich in bestimmten Lernsituationen über eine längere Zeit. Wie gehen sie mit Fehlern und Schwächen um? Wie lernen sie von und mit anderen? Wie präsentieren sie ihre Stärken? Diese und weitere Fragen können die Lehrpersonen an Primar- und Sekundarschulen perfekt einschätzen. Sie sind es, die am besten beurteilen können, wer an einem Gymnasium bestehen kann und wer nicht. Gymnasiallehrpersonen, die unter enormem Zeitdruck Prüfungsaufgaben korrigieren, nehmen die Menschen hinter diesen Aufgaben nicht wahr, sie können es gar nicht.
    Falls Selektion nötig ist, kann und muss sie ohne Prüfung funktionieren. In anderen Kantonen ist das kein Problem – weshalb sollte das in Zürich nicht auch gelingen.
  5. Selektion abschaffen. 
    Die Extremforderung lautet »Matura für alle«. Die weniger extreme: Schülerinnen, Schüler und ihre Eltern entscheiden lassen. Klar zeigen, was an einem Gymnasium eingefordert wird und dann die Betroffenen entscheiden lassen, ob sie so lernen wollen oder nicht.
    Klar, das kostet. Klar, das wird auf den ersten Blick wie eine Senkung des Niveaus wirken. Auf den zweiten wird aber vielleicht deutlich, dass ein Bildungssystem nur ein Niveau als ganzes hat. Wenn es das Scheitern bei einer Prüfung oder den Ausschluss von einer Schulform zu seinem Mittelpunkt macht; senkt das das Niveau und das Selbstvertrauen von enorm vielen Kindern und Jugendlichen.